Trost-Module 2: Den Leidenden zu Trost und Belehrung

Lothar Rumold: Lodovico Settembrinis Handapparat der literarischen Tröstung, 2018, Tablet-Zeichnung, Fotografie

Eine Zusammenfassung und kurzgefasste Analyse aller für jeden erdenklichen Konflikt in Betracht kommenden Meisterwerke der Weltliteratur zu verfassen – das hat sich Lodovico Settembrini „den Leidenden zu Trost und Belehrung“ in Thomas Manns Roman Der Zauberberg zur Aufgabe gemacht. (Im vorangehenden Blog-Beitrag ist davon ausführlich die Rede gewesen.) Warum nicht eine Auswahl dieser Meisterwerke als eine Art Handapparat der literarischen Tröstung in voller Länge und Breite Trost Suchenden an einem geeigneten Ort (beispielsweise unter Bäumen in der Nähe einer Quelle oder Bar) zur Verfügung stellen?

Eine Enzyklopädie der Leiden

Wer Trost spenden möchte, muss sich über eines im Klaren sein: Die Arten und Weisen des Tröstens werden so vielgestaltig sein müssen wie die Leiden, die der gespendete Trost lindern soll. Die Leiden des Goetheschen Werthers erheischen andere Tröstungen als die neuen Leiden des jungen W. im gleichnamigen Roman von Ulrich Plenzdorf. Und wenn es, wie Paul Simon singt, „Fifty Ways to Leave Your Lover“ gibt, dann gibt es womöglich auch (mindestens) 50 verschiedene Arten, den verlassenen Lover zu trösten.

Ein regelmäßig wiederkehrendes Element der Erzählstruktur in Thomas Manns anderem Schwarzwaldklinik-Roman „Der Zauberberg“ sind die Gespräche zwischen dem Protagonisten Hans Castorp und Lodovico Settembrini, welcher sich, obschon im zwischenmenschlichen Nahbereich zu Sarkasmus und Misanthropie neigend, im Allgemeinen und im Prinzip als glühender Verfechter humanistischer Ideale und fortschrittlichster Ideen erweist. Bei einem dieser Gespräche skizziert Settembrini das von Barcelona aus koordinierte Projekt einer sozialrevolutionären Enzylopädie der Leiden, bei dem er, ungeachtet seines Daueraufenthalts in der Davoser Kurklinik, eine wichtige Aufgabe übernommen hat:

„Der ‚Bund zur Organisierung des Fortschritts‘, eingedenk der Wahrheit, daß seine Aufgabe darin besteht, das Glück der Menschheit herbeizuführen, mit anderen Worten: das menschliche Leiden durch zweckvolle soziale Arbeit zu bekämpfen und am Ende völlig auszumerzen, – eingedenk ferner der Wahrheit, daß diese höchste Aufgabe nur mit Hilfe der soziologischen Wissenschaft gelöst werden kann, deren Endziel der vollkommene Staat ist, – der Bund also hat in Barcelona die Herstellung eines vielbändigen Buchwerkes beschlossen, das den Titel ‚Soziologie der Leiden‘ führen wird, und worin die menschlichen Leiden nach allen ihren Klassen und Gattungen in genauer und erschöpfender Systematik bearbeitet werden sollen. Sie werden mir einwenden: Was nützen mich Klassen, Gattungen, Systeme! Ich antworte Ihnen: Ordnung und Sichtung sind der Anfang der Beherrschung, und der eigentlich furchtbare Feind ist der unbekannte. Man muß das Menschengeschlecht aus den primitiven Stadien der Furcht und der duldenden Dumpfheit herausführen und es zur Phase zielbewußter Tätigkeit leiten. Man muß es darüber aufklären, daß Wirkungen hinfällig werden, deren Ursachen man zuerst erkennt und dann aufhebt, und daß fast alle Leiden des Individuums Krankheiten des sozialen Organismus sind. Gut! Dies ist die Absicht der ‚Soziologischen Pathologie‘. Sie wird also in etwa zwanzig Bänden von Lexikonformat alle menschlichen Leidensfälle aufführen und behandeln, die sich überhaupt erdenken lassen, von den persönlichsten und intimsten bis zu den großen Gruppenkonflikten, den Leiden, die aus Klassenfeindschaften und internationalen Zusammenstößen erwachsen, sie wird, kurz gesagt, die chemischen Elemente aufzeigen, aus deren vielfältiger Mischung und Verbindung sich alles menschliche Leiden zusammensetzt, und indem sie die Würde und das Glück der Menschheit zur Richtschnur nimmt, wird sie ihr in jedem Falle die Mittel und Maßnahmen an die Hand geben, die ihr zur Beseitigung der Leidursachen angezeigt scheinen. Berufliche Fachmänner der europäischen Gelehrtenwelt, Ärzte, Volkswirte und Psychologen, werden sich in die Ausarbeitung dieser Enzyklopädie der Leiden teilen, und das General-Redaktionsbureau zu Lugano wird das Sammelbecken sein, in dem die Artikel zusammenfließen. Sie fragen mich mit den Augen, welche Rolle nun mir bei all dem zufallen soll? Lassen Sie mich zu Ende reden! Auch den schönen Geist will dieses große Werk nicht vernachlässigen, soweit er eben menschliches Leiden zum Gegenstande hat. Darum ist ein eigener Band vorgesehen, der, den Leidenden zu Trost und Belehrung [meine Hervorhebung, L. R.], eine Zusammenfassung und kurzgefaßte Analyse aller für jeden einzelnen Konflikt in Betracht kommenden Meisterwerke der Weltliteratur enthalten soll; und – dies ist die Aufgabe, mit der man in dem Schreiben, das Sie hier sehen, Ihren ergebensten Diener betraut.“

Karl O. spielt und singt O. Reutter

1.
Denk‘ stets, wenn etwas dir nicht gefällt:
„Es währt nichts ewig auf dieser Welt.“
Der kleinste Ärger, die größte Qual
Sind nicht von Dauer, sie enden mal.
Drum sei dein Trost, was immer es sei:
„In fünfzig Jahren ist alles vorbei.“

Otto Reutter (1870-1931) – die weiteren 15 oder 16 Strophen kann man hier nachlesen und dann vorsingen.

Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele

Hugo von Hofmannsthal
Ballade des äußeren Lebens

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.

Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.

Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende, und totenhaft verdorrte …

Wozu sind diese aufgebaut und gleichen
Einander nie? und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?

Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?

Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der „Abend“ sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.

Dieses Gedicht wurde von dem noch jungen österreichischen Dichter Hugo von Hofmannsthal im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts geschrieben und veröffentlicht. Wenn aus dem Wort „Abend“ Tiefsinn und Trauer rinnt, wie es in der letzten Strophe heißt, so kann man diese Feststellung getrost auf das ganze Gedicht übertragen. Getrost? Haben wir es hier nicht mit einer Aneinanderreihung von Metaphern der Untröstlichkeit zu tun? Was soll tröstlich sein an und in diesen Zeilen am Rande des Apokalyptischen? Ich weiß es nicht, darf aber zu Protokoll geben, dass ich in dieser einsamen Melodie der Traurigkeit durchaus und durchaus deutlich eine tröstliche Schwingung wahrnehme. Ein Trost in Moll, aber ein Trost allemal. Melancholie ist der paradoxe Seinsmodus des Trost-Findens in der Untröstlichkeit. Vielleicht hat es damit zu tun.

Von „comfort“ bis Southern Comfort

Während das Deutsche nur eine Art des Trosts (nämlich den, den wir „Trost“ nennen) zu kennen scheint, gibt es im englischen Sprachraum den Trost, den man meint, wenn man von „comfort“ spricht, und jenen, auf den man sich mit „consolation“ oder „solace“ bezieht. Oder ist das ein und derselbe Trost – und wenn ja: wie heißt er?

Aus dem Labyrinth sprachphilosophischer Erwägung kommen wir, wenn überhaupt, nur auf dem Wege der Promotion und Habilitation wieder heraus. Deshalb an dieser Stelle nur soviel: „comfort“ meint neben „Trost“ auch „Komfort“, „Annehmlichkeit“, „Bequemlichkeit“ („a comfortable chair“ ist kein Beichtstuhl, sondern im Gegenteil ein bequemer Stuhl). Man kann zwar einen „consolation prize“ gewinnen, nicht aber einen „comfort prize“, ansonsten wird, wenn ich es recht sehe, in umgangssprachlichen Wendungen der Gebrauch von „comfort“ demjenigen von „consolation“ oder „solace“ vorgezogen.

Wäre „comfort“ der unaufwendige, beinahe lakonisch-alltägliche Trost, würde es sich bei dem mit den lateinischen Vorfahren um die eloquent-viersilbige Variante für Sonn- und Feiertage handeln. Mit dieser These gut in Einklang zu bringen wäre die Tatsache der Verwendung von „comfort“ zur Bezeichnung eines Getränks, das in der Hausbar des Melancholikers nicht fehlen darf. „Es ist ein Brauch von Alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör“: Und wer nicht davor zurückschreckt, sich mit Likör zu trösten, landet vielleicht irgendwann auch einmal beim Trost des Südens, beim Southern Comfort – zunächst (wenn Wikipedia recht hat) ein 1874 von einem irischen Barkeeper in New Orleans erfundener Cocktail, doch wenig später schon ein Trost aus der Flasche, der nach Whisky, Pfirsich, Orange, Vanille, Zimt und dunkler Schokolade schmeckte und noch immer schmeckt. Dass das schmeckt, kann ich mir allerdings nicht vorstellen. Doch wie pflegte eine frühere Kommilitonin zu sagen: Hauptsache, es knallt in der Birne und Senft an der Decke (ja, das war damals in Berlin).

„Es ist ein Brauch von Alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör“ – das Zitat stammt bekanntermaßen aus Wilhelm Buschs Geschichte von der frommen(!) Helene. Kaum jemand kennt jedoch den Satz, der darauf folgt: „Doch wer zufrieden und vergnügt, sieht zu, daß er auch welchen kriegt.“ Merke: Manche Art von Trost ist nicht nur etwas für die Trostbedürftigen.

Aus Schopenhauers Bei- oder Nebenwerk

„Allerdings ist das Leben nicht eigentlich da, um genossen, sondern um überstanden, abgetan zu werden; dies bezeichnen auch die deutschen Ausdrücke ‚man muss suchen durchzukommen‘, ‚er wird schon durch die Welt kommen‘ und dergleichen mehr. Ja es ist ein Trost im Alter, dass man die Arbeit des Lebens hinter sich hat.“

Arthur Schopenhauer (1788-1860): Parerga und Paralipomena (2 Bände), 1851. Erster Band: Aphorismen zur Lebensweisheit. Kapitel 5: Paränesen und Maximen

Nährstoffe abzapfen und dafür Augentrost spenden

Ein Augentrost (Euphrasia monroi) nebst einer Pantoffelblume (Calceolaria sinclairii).

Während der Augentrost (170 bis 350 Arten) weltweit verbreitet ist, kommt die Pantoffelblume (rund 250 Arten) nur in Mittel- und Südamerika vor. Beide Pflanzen sind krautig, doch der Augentrost benimmt sich geradezu unkrautig, indem er einer von ihm (oder von der Evolution) auserkorenen Wirtspflanze Wasser und Nährstoffe entzieht. Im Gegensatz zu anderen Schmarotzern kann der Augentrost auch leben ohne zu parasitieren. (Was ist paradox? Wenn eine Pflanze parasitiert.)

Ich nehme an, auf dieser schönen kolorierten Zeichnung der in England geborenen Neuseeländerin Georgina Burne Hetley (1832-1898) sieht man eine Nährstoffgeberin in trauter bzw. krauter Eintracht mit einer Nährstoffnehmerin. Fragt sich nur, wie die Neuseeländerin dazu kam, eine vorwiegend in den südamerikanischen Anden verbreitete Pflanze zu porträtieren.

Du Trost der Betrübten: Maria Consolatrix afflictorum

Gnadenbild der Muttergottes von Kevelaer, Kupferstich 1640

In der aus dem Mittelalter stammenden Lauretanischen Litanei (i. e.: die Litanei von Loreto, ein in vielerlei Hinsicht bemerkens- und besuchenswerter Wallfahrtsort in den italienischen Marken) wird Maria u. a. als „Consolatrix afflictorum“, d. h. als „Trösterin der Betrübten“ oder auch „Trost der Betrübten“ tituliert.

Kevelaer am Niederrhein gehört zu den bekannteren Wallfahrtsorten der Trösterin. Der oben abgebildete Kupferstich ist seinerseits die Abbildung eines Bildnisses. Er zeigt (in ziemlich freier Nachbildung) eine aus Lindenholz geschnitzte Statue, die in Luxemburg seit dem 17. Jahrhundert im Rahmen einer vorösterlichen Wallfahrt verehrt wird.

Oben habe ich durchblicken lassen, dass ich selbst auch einmal eine eher touristisch gemeinte (Wall-)Fahrt nach Loreto unternommen habe. Meine Frau und ich besuchten den Ort 2009 während unseres Sommerurlaubs in den schönen Marken. Die Mischung aus merkantilem Treiben und ostentativ gelebtem Glauben hat uns beeindruckt. Da es hier um das Thema Trost und Trösten geht, erlaube ich mir, eine Passage aus unserem damals gemeinsam verfassten Reisetagebuch wiederzugeben. Schauplatz der geschilderten Szene ist die Wallfahrtskirche, die Basilika vom Heiligen Haus (in letzterem war Maria in Nazareth aufgewachsen, aber das ist eine andere Geschichte):

„Eine große Zahl der reichlich vorhandenen Beichtstühle ist sozusagen in Betrieb, sie aufzusuchen scheint das Selbstverständlichste von der Welt zu sein. Ein alter Priester mit weißem Bart sitzt im erhöht angebrachten, offenen Absolutionsmöbel und spricht mit einer Frau, die, zu ihm aufschauend, vor ihm steht, die gefalteten Hände auf eine Armlehne gestützt. Während sie miteinander reden, bekräftigt er seine Worte mit sanftem Schulterklopfen – eine zu Herzen gehende, sinnbildhafte Szene des erkennbar nicht auf Augenhöhe gespendeten Trostes, deren Wert und Wahrheit uns über jede noch so schlüssige Religionskritik erhaben zu sein scheint.“

Im Augustinerorden ist der 4. September der Festtag für „Maria, Mutter des Trostes“ und in bestimmten Regionen ist der Samstag nach dem 28. August (Fest des Heiligen Augustinus) der „Tag der Maria vom Trost“.

Zur Semantik und Etymologie von „Trost“

ich hân trôst daz mir noch fröide bringe
der ich mînen kumber hân geklaget.

(Ich bin voller Zuversicht, dass diejenige mir noch Freude bereiten wird,
der ich mein Leid geklagt habe.)

Walther von der Vogelweide: Neue hohe Minne (1210-1220)

Die Frage nach dem Wesen des Trosts ist von der Frage nach der Bedeutung des Wortes Trost nicht zu trennen. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ist ein anderer sprachlicher Ausdruck, pflegte einer meiner Heidelberger Professoren zu sagen, er war bzw. ist Lexikologe, also Spezialist für Wörterbücher. „Das Deutsche Wörterbuch (DWB) ist das größte und umfassendste Wörterbuch zur deutschen Sprache seit dem 16. Jahrhundert“ sagt Wikipedia. Unter dem Stichwort Trost findet sich dort u. a.:

„Trost“ ist verwandt mit dem altnordischen „traust“, das „Sicherheit, Zuversicht, Mut“, aber auch „Hilfe“ und „Schutz“ bedeutet.

Aus dem Nordischen entlehnt ist das mittelenglische „trust“. Noch im gleichlautenden neuenglischen Wort ist die alte Bedeutung „Vertrauen“ festgehalten.

Vielleicht nicht nur für mich interessant: das alte Wort „traust“ (s. o.) weist zurück auf ein indogermanisches Wort, das „Kernholz, Festigkeit“ bedeutet. (Das gotische „triu“ heißt „Baum“ – ich denke dabei an englisch „tree“ und deutsch „treu“.)

Das Wort Trost ist „seinem eigentlichen wesen nach mehr ein wort der literatur als der umgangssprache und der mundarten“, weshalb „die dialektischen abweichungen in der lautform verhältnismäszig gering“ sind.

Die etymologische Verwandtschaft mit „trauen“ wird deutlich, wenn man „Trost“ paraphrasiert mit „festigkeit, aus welcher sicherheit und weiterhin, als subjektives gefühl sich äuszernd, zuversicht und vertrauen entspringt“.

Die heutige (oder beinahe heutige – der Artikel wurde Mitte des 19. Jahrhunderts verfasst) Bedeutung von „Trost“ kann man umschreiben mit „Festigkeit, die durch Zuspruch als seelische Stärkung gegeben oder erhalten wird“. Diese neuere Bedeutung „die trost weniger als sichtbare hilfe denn als seelische stärkung zeigt“, erwächst aus der religiösen Verwendung des Wortes, die das ganze Mittelalter durchzieht, und in der „die alten bedeutungen gleichsam mit aufgesogen sind“.

Den ganzen Wörterbuch-Artikel der Brüder Grimm findet man hier.

Ein Quäntchen Trost von Peter Strasser

Wer auf der Suche nicht nach Trost, sondern nach dessen Begriff die Suchfunktion des Online-Katalogs einer großen Bibliothek (beispielsweise der Badischen Landesbibliothek) in Anspruch nimmt, wird eher früher als später auf den Trost der Philosophie des spätantiken römischen Philosophen Boethius stoßen. Aber nicht von diesem fiktiv-realen Dialog des antiken Philosophen mit der inkarnierten (antiken) Philosophie soll die Rede sein (jedenfalls noch nicht), sondern von jenem Quäntchen Trost, das, wie der Titel verrät, der noch lebende österreichische Philosoph Peter Strasser in einem 135 Seiten schmalen Bändchen (Untertitel: Nachträge zur Glückseligkeit) dem Leser zu verabreichen sich vorgenommen hat.

Was Strasser Boethius und der auf ihn folgenden Philosophie bis hin zur Neuzeit und Moderne vorwirft, ist eben dasjenige, worauf sie sich selbst so viel zugute hält: ihre begriffliche Explizitheit, ihre intendierte Klarheit, ihre geistige (tatsächliche oder vermeintliche) Schattenlosigkeit. Wo „auch noch das letzte Geheimnis, das mysterium mysteriorum, auf die grell erleuchtete Begriffsbühne“ gehoben wird, sind „Gedankenschleier, Metapher und Poesie“ als Bedingung der Möglichkeit des Getröstet-Werdens um ihre Daseinsberechtigung gebracht. Die intellektuelle Gnadenlosigkeit (wie ich sagen würde) der Philosophie bei und nach Boethius ist nach Strasser schuld daran, dass wir durch die Philosophen im allgemeinen so wenig Trost erfahren. Strasser will aber „den Gedanken einer Tröstung durch Philosophie“ nicht aufgeben:

„Es soll ein Rahmen skizziert werden, in dem eine Neubesinnung der Philosophie immerhin möglich schiene. Ein Wesensziel der einst vielbeschworenen Liebe zur Weisheit bestünde demnach darin, unserem trostlosen Ganzen ein ‚Quäntchen Trost‘ entgegenzusetzen. Dies freilich sollte geschehen, ohne bloß substanzlos ‚trösterisch‘ zu agieren. Denn solch gefühliger Trost würde ja nichts weiter bewirken, als dem höheren Gefühlskitsch Vorschub zu leisten.“ (S. 11)

Der hohe, geistige Trost der Philosophie wird dem bloß „trösterischen“ und „gefühligen“ Trost an oder auch jenseits der Grenze zum „Gefühlskitsch“ gegenübergestellt und in scharfer Distanzierung von diesem unterschieden. Bei aller Wertschätzung für den Autor und sein Werk (dessen Lektüre ich hiermit empfehlen möchte) meine ich, diese anti-populistische verbale Bekreuzigung wäre nicht nötig gewesen. Wer tröstet, tröstet – und was Trost spendet, spendet Trost. Und jeder, der schon einmal bis über beide Ohren verliebt oder tieftraurig oder beides zugleich gewesen ist, weiß, dass in extremen Gefühlslagen die Unterscheidung zwischen Kitsch und Nicht-Kitsch irrelevant wird.

Peter Strasser: Ein Quäntchen Trost. Nachträge zur Glückseligkeit. Paderborn 2015 (Wilhelm Fink Verlag), 135 Seiten