Ohrentrost

Gestern habe ich hier ein Wiesenkraut vorgestellt, das mit einem seiner vielen Namen Augentrost genannt wird, weil es bei bestimmten Problemen mit den Augen eine heilende Wirkung entfaltet. Heilen und trösten scheinen demnach eng miteinander verwandt zu sein.

Synästheten wissen darüber hinaus um die enge Beziehung zwischen Auge und Ohr. Wer da von der Farbe (dem Auge) spricht, wird vom Ton oder Klang (dem Ohr) nicht schweigen wollen.

Gibt es also auch einen Ohrentrost? Wer das Wort googelt, wird zwar fündig, kann aber u. U. mit dem Gefundenen nicht viel anfangen, so ging es mir jedenfalls. Das Ohr allgemein mit Trost und Trösten in Verbindung zu bringen, ist die ergiebigere Vorgehensweisen. Ein offenes Ohr für jemanden zu haben, heißt, dass man dazu bereit und in der Lage ist, ihm oder ihr „empfangsbereit“ zuzuhören. Das Ohr, genauer gesagt: die Ohrmuschel, steht daher symbolisch für Zuhören-Können und -Wollen. Und das reicht manchmal schon aus, um jemanden zu trösten, der sich etwas von der Seele reden musste.

Noch mehr Ohren und demnächst mehr zum Thema Ohr gibt es hier.

Augentrost: Euphrasia officinalis

Wer dieser halbschmarotzenden, einjährigen, bis zu 30 cm hoch wachsenden, drüsig behaarten Wiesenpflanze mit gegenständig angeordneten, eiförmigen Blättern in die augenförmige Blüte schaut, soll angeblich frohen Sinnes werden. Außerdem erkannte man spätestens im 14. Jahrhundert, dass der Halbschmarotzer gegen Augenleiden hilft und in verräucherter Form auch im übertragenen Sinn hellsichtig macht, ob die moderne Naturwissenschaft dieses wie jenes nun versteht oder nicht.

In einem Garten des Trostes, so man denn einen anlegen wollte, dürfte das Kräutlein (es blüht von Juli bis September) also nicht fehlen, auch wenn es mit seinen Saugfüßen den Xylemstrom von Gräsern anzapft und deshalb unter uns Viehtreibern als „Weiddieb“ oder „Milchdieb“ gilt.

Euphrasia officinalis, zu den Inhaltsstoffen usw. bitte hier entlang.

Zur Institutionalisierung des Trosts

Trost oder Tröstung, das ist mir heute beim Lesen einer E-Mail, in der von vielerlei Trost-Erfahrungen berichtet wurde, klar geworden, bezeichnet nicht nur einen relativ abgeschlossenen, wenngleich wiederholbaren konkreten Einzel-Vorgang, sondern ist auch der Name für einen komplexen Prozess. Wenn ein Kind hingefallen ist, wird es getröstet und sobald der Schmerz nachgelassen hat, ist die Welt in der Regel wieder in Ordnung. Andere Schmerzen lassen nicht so schnell nach und es dauert womöglich Jahre, bis nach einem als Weltuntergang erlebten Verlust die Welt wieder einigermaßen in Ordnung ist, auch wenn sie nie wieder die alte sein wird.

Tröstung als Langzeitphänomen besteht aus einer Vielzahl von Trost-Erfahrungen, bei denen die unterschiedlichsten Akteure, Gegenstände, Vorgänge usw. in Erscheinung treten und eine Rolle spielen. Dabei ist der explizit als Tröstung erlebte Trost vielleicht sogar die Ausnahme. Dass ein Spaziergang mit einer Freundin oder einem Verwandten zur Wiederherstellung des Seelenfriedens beigetragen hat und also tröstlich gewesen ist, bemerkt man vielleicht erst am nächsten oder übernächsten Tag. Und unter Umständen einfach „nur“ indirekt daran, dass einem das morgendliche Aufstehen nicht mehr ganz so sinnlos vorkommt.

(„… wozu noch morgens aufstehn / Mein Tag ist finstre Nacht / Und kommt je wieder Licht / Wird sichtbar, was wir sind: / Ein Häufchen Elend nur -„, sang Wolf Biermann vor bald 40 Jahren traurig schön nach Louis Aragon.)

Für jeden Versuch, Trost und Tröstung gewissermaßen zu institutionalisieren, stellt die Komplexität und Unberechenbarkeit der Tröstung als Langzeitgeschehen oder Seelenheilungs-Prozess ein im Grunde nicht lösbares Problem dar. In diesen Kontext gestellt, kann Trost, überspitzt formuliert, alles und nichts sein. Gleichwohl kann man versuchen, die Selbstheilungskräfte des Lebens bei ihrem undurchschaubaren Tun und Lassen nach bestem Wissen und Gewissen zu unterstützen.

Ein grimmig-optimistisches Wort aus der großen Zeit Wolf Biermanns (wenn auch nicht von ihm geprägt, sondern sozusagen Volksmund) lautet: Wir haben keine Chance, aber die müssen wir nutzen.

Consolation in advance oder: Prophylaktischer Trost

Rossettis Vater war ein italienischer Einwanderer und Professor für Italienisch in London. Christinas berühmter, zwei Jahre ältere Bruder Dante Gabriel (1828-1882) reüssierte als Maler, Poet und Übersetzer. „All her life she lived in retirement, devotedly attending her invalid mother, who died in 1886. [Sie selbst starb 1894, L. R.] She wrote numerous rhymes, love poems, sonnetts, and devotional verse.“ (British and American Classical Poems. Neu herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von meinem Lehrer Horst Meller und dessen Mitarbeiter Rudolf Sühnel, Braunschweig 1966, S. 362)

Die visuelle und performative Umsetzung von und mit Brigitte Bordeau (ihr Name erscheint am Ende nur für den Bruchteil einer Sekunde) ist grandios, um nicht zu sagen genial! Die amerikanische Tönung ihres „englischen“ Englischen ist ebenso passend unpassend wie das sequenzielle optische Stummbleiben ihrer Lippen während man sie sprechen hört. Soviel Trost durch Schönheit in Wort und Bild komprimiert auf eine Minute findet man selten.

Das Wort haply in den beiden letzten Zeilen ist mit vielleicht zu übersetzen.

Song

When I am dead, my dearest,
Sing no sad songs for me;
Plant thou no roses at my head,
Nor shady cypress tree:
Be the green grass above me
With showers and dewdrops wet:
And if thou wilt, remember,
And if thou wilt, forget.

I shall not see the shadows,
I shall not feel the rain;
I shall not hear the nightingale
Sing on, as if in pain:
And dreaming through the twilight
That doth not rise nor set,
Haply I may remember,
And haply may forget.

Christina Rossetti, 1848

Ein Haiku und das Trost-Maß wäre voll

Es soll Menschen geben, die sich schon im Frühjahr auf den nächsten Winter freuen und dann irgendwie über den Sommer und den Herbst hinweggetröstet werden müssen. Zu diesen gehöre ich nicht, sie sind wohl eher selten. Sonst wäre es auch merkwürdig, dass der Winter metaphorisch immer noch für eine dunkle Phase des Durchhalten-Müssens und des Hoffens auf bessere Zeiten steht.

Da Schönheit eines der Synonyme für Tröstung ist, weiß ich, warum ich diese Spur, als ich sie heute entdeckte und fotografierte, tröstlich fand. Fehlt jetzt nur noch ein Haiku dazu, um das Trost-Maß voll zu machen.

Trost-Module 5: Trost im Spiegel

Wollte jemand einen Garten des Trostes anlegen, so würde ich den Vorschlag machen, in der Nähe des Zentrums dieses Gartens eine große, etwa drei Meter hohe Holz-Stele aufzustellen, auf welcher in Spiegelschrift das Wort TROST zu lesen bzw. nicht zu lesen wäre. Denn wirklich lesen könnte man das Wort erst, wenn man nicht mehr auf die Stele, sondern in die Wasserfläche vor der Stele blicken würde. Die Grundidee für diesen möglichen Vorschlag verdanke ich dem schottischen Künstler Ian Hamilton Finlay (1925-2006), der 1975 in Stuttgart-Büsnau eine ähnliche Arbeit unter Verwendung des Wortes Schiff realisiert hat. Es wäre interessant zu erfahren, auf welchem Weg Finlay zu diesem Einfall kam.

Der besondere Charme des Objekts liegt für mich in seiner Indirektheit, also darin, dass es sich der Betrachterin (aber auch dem Betrachter) erst dann vollständig erschließt, wenn sie (er) ihren (seinen) Blick von ihm (dem Objekt) abwendet und auf die davor befindliche Wasserfläche richtet. Die, wenn man so will, geheime Botschaft lautet: Wir sehen (erkennen) etwas erst, wenn wir es nicht mehr sehen (fixieren) und wir finden Trost vielleicht am ehesten dort, wo wir gar nicht danach gesucht haben.

Auch hat Trost, abstrakt gesagt, etwas mit dem Umschlagen oder dem Sich-Wenden des Negativen ins Positive zu tun. Wobei der Trost weniger die Wende selbst ist (die muss im Leben stattfinden) als vielmehr die Aussicht auf die Wende, die konkrete Ahnung ihrer realen Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, bis hin zur Gewissheit der Wiederkehr des Guten. (Was ist der christliche Trost anderes als die Erinnerung an die christliche Glaubensgewissheit der Letzten Wende, bestehend in der Wiederkehr Jesu Christi am Ende der Zeit.)

TROST-Stele für einen TROST-GARTEN, Modell 1:10, Maße der Ausführung: 285 x 70 x 45 cm