Eine Zusammenfassung und kurzgefasste Analyse aller für jeden erdenklichen Konflikt in Betracht kommenden Meisterwerke der Weltliteratur zu verfassen – das hat sich Lodovico Settembrini „den Leidenden zu Trost und Belehrung“ in Thomas Manns Roman Der Zauberberg zur Aufgabe gemacht. (Im vorangehenden Blog-Beitrag ist davon ausführlich die Rede gewesen.) Warum nicht eine Auswahl dieser Meisterwerke als eine Art Handapparat der literarischen Tröstung in voller Länge und Breite Trost Suchenden an einem geeigneten Ort (beispielsweise unter Bäumen in der Nähe einer Quelle oder Bar) zur Verfügung stellen?
Eine Enzyklopädie der Leiden
Wer Trost spenden möchte, muss sich über eines im Klaren sein: Die Arten und Weisen des Tröstens werden so vielgestaltig sein müssen wie die Leiden, die der gespendete Trost lindern soll. Die Leiden des Goetheschen Werthers erheischen andere Tröstungen als die neuen Leiden des jungen W. im gleichnamigen Roman von Ulrich Plenzdorf. Und wenn es, wie Paul Simon singt, „Fifty Ways to Leave Your Lover“ gibt, dann gibt es womöglich auch (mindestens) 50 verschiedene Arten, den verlassenen Lover zu trösten.
Ein regelmäßig wiederkehrendes Element der Erzählstruktur in Thomas Manns anderem Schwarzwaldklinik-Roman „Der Zauberberg“ sind die Gespräche zwischen dem Protagonisten Hans Castorp und Lodovico Settembrini, welcher sich, obschon im zwischenmenschlichen Nahbereich zu Sarkasmus und Misanthropie neigend, im Allgemeinen und im Prinzip als glühender Verfechter humanistischer Ideale und fortschrittlichster Ideen erweist. Bei einem dieser Gespräche skizziert Settembrini das von Barcelona aus koordinierte Projekt einer sozialrevolutionären Enzylopädie der Leiden, bei dem er, ungeachtet seines Daueraufenthalts in der Davoser Kurklinik, eine wichtige Aufgabe übernommen hat:
„Der ‚Bund zur Organisierung des Fortschritts‘, eingedenk der Wahrheit, daß seine Aufgabe darin besteht, das Glück der Menschheit herbeizuführen, mit anderen Worten: das menschliche Leiden durch zweckvolle soziale Arbeit zu bekämpfen und am Ende völlig auszumerzen, – eingedenk ferner der Wahrheit, daß diese höchste Aufgabe nur mit Hilfe der soziologischen Wissenschaft gelöst werden kann, deren Endziel der vollkommene Staat ist, – der Bund also hat in Barcelona die Herstellung eines vielbändigen Buchwerkes beschlossen, das den Titel ‚Soziologie der Leiden‘ führen wird, und worin die menschlichen Leiden nach allen ihren Klassen und Gattungen in genauer und erschöpfender Systematik bearbeitet werden sollen. Sie werden mir einwenden: Was nützen mich Klassen, Gattungen, Systeme! Ich antworte Ihnen: Ordnung und Sichtung sind der Anfang der Beherrschung, und der eigentlich furchtbare Feind ist der unbekannte. Man muß das Menschengeschlecht aus den primitiven Stadien der Furcht und der duldenden Dumpfheit herausführen und es zur Phase zielbewußter Tätigkeit leiten. Man muß es darüber aufklären, daß Wirkungen hinfällig werden, deren Ursachen man zuerst erkennt und dann aufhebt, und daß fast alle Leiden des Individuums Krankheiten des sozialen Organismus sind. Gut! Dies ist die Absicht der ‚Soziologischen Pathologie‘. Sie wird also in etwa zwanzig Bänden von Lexikonformat alle menschlichen Leidensfälle aufführen und behandeln, die sich überhaupt erdenken lassen, von den persönlichsten und intimsten bis zu den großen Gruppenkonflikten, den Leiden, die aus Klassenfeindschaften und internationalen Zusammenstößen erwachsen, sie wird, kurz gesagt, die chemischen Elemente aufzeigen, aus deren vielfältiger Mischung und Verbindung sich alles menschliche Leiden zusammensetzt, und indem sie die Würde und das Glück der Menschheit zur Richtschnur nimmt, wird sie ihr in jedem Falle die Mittel und Maßnahmen an die Hand geben, die ihr zur Beseitigung der Leidursachen angezeigt scheinen. Berufliche Fachmänner der europäischen Gelehrtenwelt, Ärzte, Volkswirte und Psychologen, werden sich in die Ausarbeitung dieser Enzyklopädie der Leiden teilen, und das General-Redaktionsbureau zu Lugano wird das Sammelbecken sein, in dem die Artikel zusammenfließen. Sie fragen mich mit den Augen, welche Rolle nun mir bei all dem zufallen soll? Lassen Sie mich zu Ende reden! Auch den schönen Geist will dieses große Werk nicht vernachlässigen, soweit er eben menschliches Leiden zum Gegenstande hat. Darum ist ein eigener Band vorgesehen, der, den Leidenden zu Trost und Belehrung [meine Hervorhebung, L. R.], eine Zusammenfassung und kurzgefaßte Analyse aller für jeden einzelnen Konflikt in Betracht kommenden Meisterwerke der Weltliteratur enthalten soll; und – dies ist die Aufgabe, mit der man in dem Schreiben, das Sie hier sehen, Ihren ergebensten Diener betraut.“
Ein Quäntchen Trost von Peter Strasser
Wer auf der Suche nicht nach Trost, sondern nach dessen Begriff die Suchfunktion des Online-Katalogs einer großen Bibliothek (beispielsweise der Badischen Landesbibliothek) in Anspruch nimmt, wird eher früher als später auf den Trost der Philosophie des spätantiken römischen Philosophen Boethius stoßen. Aber nicht von diesem fiktiv-realen Dialog des antiken Philosophen mit der inkarnierten (antiken) Philosophie soll die Rede sein (jedenfalls noch nicht), sondern von jenem Quäntchen Trost, das, wie der Titel verrät, der noch lebende österreichische Philosoph Peter Strasser in einem 135 Seiten schmalen Bändchen (Untertitel: Nachträge zur Glückseligkeit) dem Leser zu verabreichen sich vorgenommen hat.
Was Strasser Boethius und der auf ihn folgenden Philosophie bis hin zur Neuzeit und Moderne vorwirft, ist eben dasjenige, worauf sie sich selbst so viel zugute hält: ihre begriffliche Explizitheit, ihre intendierte Klarheit, ihre geistige (tatsächliche oder vermeintliche) Schattenlosigkeit. Wo „auch noch das letzte Geheimnis, das mysterium mysteriorum, auf die grell erleuchtete Begriffsbühne“ gehoben wird, sind „Gedankenschleier, Metapher und Poesie“ als Bedingung der Möglichkeit des Getröstet-Werdens um ihre Daseinsberechtigung gebracht. Die intellektuelle Gnadenlosigkeit (wie ich sagen würde) der Philosophie bei und nach Boethius ist nach Strasser schuld daran, dass wir durch die Philosophen im allgemeinen so wenig Trost erfahren. Strasser will aber „den Gedanken einer Tröstung durch Philosophie“ nicht aufgeben:
„Es soll ein Rahmen skizziert werden, in dem eine Neubesinnung der Philosophie immerhin möglich schiene. Ein Wesensziel der einst vielbeschworenen Liebe zur Weisheit bestünde demnach darin, unserem trostlosen Ganzen ein ‚Quäntchen Trost‘ entgegenzusetzen. Dies freilich sollte geschehen, ohne bloß substanzlos ‚trösterisch‘ zu agieren. Denn solch gefühliger Trost würde ja nichts weiter bewirken, als dem höheren Gefühlskitsch Vorschub zu leisten.“ (S. 11)
Der hohe, geistige Trost der Philosophie wird dem bloß „trösterischen“ und „gefühligen“ Trost an oder auch jenseits der Grenze zum „Gefühlskitsch“ gegenübergestellt und in scharfer Distanzierung von diesem unterschieden. Bei aller Wertschätzung für den Autor und sein Werk (dessen Lektüre ich hiermit empfehlen möchte) meine ich, diese anti-populistische verbale Bekreuzigung wäre nicht nötig gewesen. Wer tröstet, tröstet – und was Trost spendet, spendet Trost. Und jeder, der schon einmal bis über beide Ohren verliebt oder tieftraurig oder beides zugleich gewesen ist, weiß, dass in extremen Gefühlslagen die Unterscheidung zwischen Kitsch und Nicht-Kitsch irrelevant wird.
Peter Strasser: Ein Quäntchen Trost. Nachträge zur Glückseligkeit. Paderborn 2015 (Wilhelm Fink Verlag), 135 Seiten