Wie viel Trost spendet der, der ABEND sagt?

Überspitzt gesagt: Wenn man durch das Lesen von Wörtern wie TROST oder LIEBE, ERINNERUNG oder GLAUBE getröstet würde, dann müsste es vielleicht auch möglich sein, durch das Lesen der Wortfolge LINSEN UND SPÄTZLE satt zu werden. Oder hinkt der Vergleich? Ja. Aber er hinkt beinahe nur in dem Maß, in dem beinahe alle Vergleiche hinken.

Wenn wir auf der Suche nach dem, was tröstet, Begriffe finden, die unseres Erachtens etwas mit Trost und Tröstung zu tun haben, so ist für die Gestaltung eines Außenraums, in dem Trost als reale Erfahrung möglich bis wahrscheinlich sein soll, unmittelbar noch nichts gewonnen. Den Namen eines Trost-Wortes, beispielsweise DANKBARKEIT, in Holz zu hauen und am Rand eines Rundwegs zu platzieren – das gleicht dem Versuch eines Arztes, seine Patienten nicht mit dem Medikament selbst, sondern schon mit dem Rezept, auf dem der Name des Medikaments geschrieben steht, zu heilen. (Solches soll allerdings schon vorgekommen sein.)

Auch dieser Vergleich kann sein Hinken nicht verbergen. Denn, das ist einzuräumen, die Resonanz eines gelesenen (oder gehörten) Wortes im emotional durchwirkten Gedankenraum kann unter Umständen eine quasi-medikamentöse Wirkung entfalten. Andererseits muss mit emotionalen Abwehrreaktionen gerechnet werden, die quantitativ und qualitativ die positiven Effekte, statistisch gesehen, unter Umständen mehr als nur aufwiegen. Um Genaueres zu erfahren, müsste man eigentlich empirische sozialpsychologische Studien in Auftrag geben.

Solange deren Resultate nicht vorliegen, ist man auf die eigenen Vermutungen und Intuitionen angewiesen. Ich vermute intuitiv: solange LIEBE nur ein lesbares Wort bleibt, lässt mich dieses kalt. Getröstet würde ich mich vielleicht dann fühlen, wenn ein Holzstamm, aus dem dieses oder ein anderes Wort in großen Buchstaben geformt worden ist, nach Jahren des Liegens unter freiem Himmel deutliche Spuren der Verwitterung und des Verfalls zeigt. Das ginge dann aber wahrscheinlich nur mir und solchen wie mir so. Bedingung der Möglichkeit solchen Trosts durch Verfall der in Holz gehauenen Großen Worte wäre es, dass jemand diesen ganzheitlich, also gedanklich und sinnlich (Gesichts-, Geruchs-, und Tastsinn) wahrnehmbaren Vorgang als tröstlich empfindet.

Wo Ergebnisse der empirischen Trostforschung noch nicht vorliegen, wird man auf einer allgemeinen theoretischen Ebene über tautologische Feststellung wie die zuletzt getroffene kaum hinauskommen. Trost spendet das, was tröstet. Mit dem Sammeln von Beispielen für Tröstliches wäre für die Trostpraxis einiges, für eine Theorie des Tröstens kaum etwas gewonnen.

Dichter, verstanden als orphische Sänger, suchen nicht nach adäquaten Begriffen, sondern erspüren empathisch sprachliche Bilder und Vergleiche. Der Klang der Worte, nicht ihr begrifflicher Inhalt, tut ein Übriges.

„Und dennoch sagt der viel, der ‚Abend‘ sagt, / Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt // Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.“ So tröstlich endet Hugo von Hofmannsthals „Ballade des Äußeren Lebens“ (1896). Mit seiner Feststellung, dass mit dem Wort ABEND schon viel gesagt sei, scheint Hofmannsthal der eingangs formulierten These, dass einzelne, wie auch immer realisierte Wörter für sich genommen nicht trösten können, zunächst zu widersprechen. Doch steht das Wort Abend bei Hofmannsthal nicht isoliert da, sondern ist Bestandteil einer Verszeile, die wiederum am Ende eines längeren Gedichts steht. Tröstlich wirkt nicht das Wort, sondern das Wort im Kontext des Gedichts, das hier noch einmal im ganzen gelesen werden kann.

Consolation in advance oder: Prophylaktischer Trost

Rossettis Vater war ein italienischer Einwanderer und Professor für Italienisch in London. Christinas berühmter, zwei Jahre ältere Bruder Dante Gabriel (1828-1882) reüssierte als Maler, Poet und Übersetzer. „All her life she lived in retirement, devotedly attending her invalid mother, who died in 1886. [Sie selbst starb 1894, L. R.] She wrote numerous rhymes, love poems, sonnetts, and devotional verse.“ (British and American Classical Poems. Neu herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von meinem Lehrer Horst Meller und dessen Mitarbeiter Rudolf Sühnel, Braunschweig 1966, S. 362)

Die visuelle und performative Umsetzung von und mit Brigitte Bordeau (ihr Name erscheint am Ende nur für den Bruchteil einer Sekunde) ist grandios, um nicht zu sagen genial! Die amerikanische Tönung ihres „englischen“ Englischen ist ebenso passend unpassend wie das sequenzielle optische Stummbleiben ihrer Lippen während man sie sprechen hört. Soviel Trost durch Schönheit in Wort und Bild komprimiert auf eine Minute findet man selten.

Das Wort haply in den beiden letzten Zeilen ist mit vielleicht zu übersetzen.

Song

When I am dead, my dearest,
Sing no sad songs for me;
Plant thou no roses at my head,
Nor shady cypress tree:
Be the green grass above me
With showers and dewdrops wet:
And if thou wilt, remember,
And if thou wilt, forget.

I shall not see the shadows,
I shall not feel the rain;
I shall not hear the nightingale
Sing on, as if in pain:
And dreaming through the twilight
That doth not rise nor set,
Haply I may remember,
And haply may forget.

Christina Rossetti, 1848

Von Turgenjew über Psalm 90 zu Albert Camus

In einem kleinen St. Gallener Büchlein von 1987 mit dem Titel Quellen des Trostes (Textauswahl: Eugen Hettinger), fand ich neben anderen kurzen Texten bekannter Autoren diese Klarstellung von Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818-1883):

„Das Leben ist kein Scherz und auch kein Vergnügen; es ist nicht einmal ein Genuß … Das Leben ist schwere Mühe, Entsagung, dauernde Entsagung – das ist sein geheimer Sinn, die Lösung des Rätsels. Nicht die Erfüllung der Lieblingsgedanken und Träume, wie erhaben sie auch sein mögen, sondern die Erfüllung der Pflicht, – das ist’s, um was der Mensch sich mühen muß.“

Fällt das noch unter Trost? Diese Frage wird nur mit ja beantworten können, wer auch der Ernüchterung und Desillusionierung eine potentiell tröstliche Wirkung zuzusprechen bereit ist. Zwischen dem Trösten und dem Ermahnen bis hin zum Zurechtweisen oder Zur-Ordnung-Rufen scheint es jedenfalls eine fließende Grenze bzw. keine wirklich klare Unterscheidungsmöglichkeit zu geben. Dass das gar nicht anders sein kann, wird deutlich, wenn man „Trost“ definiert als „Ordnungsruf in seiner indirektesten, mildesten und einfühlsamsten Form“. Denn das ist doch immer auch ein Ziel des Tröstens: jemandem dabei zu helfen, in eine Mittel- oder Normallage, zur Möglichkeit einer geordneten Lebensführung zurück zu gelangen.

Ganz ähnlich wie Turgenjew tröstet desillusionierend die Bibel, wenn es in Psalm 90:10 heißt:

„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.“

Was an dieser Stelle hinzukommt, ist die von zeitgenössischen Ohren in der Regel als Zumutung empfundene Aufforderung, Mühe und Arbeit als etwas Köstliches wahrzunehmen. Womit wir gar nicht mehr weit entfernt sind von Albert Camus‘ grandiosem Vorschlag, in einer scheinbar sinnlosen Plackerei, das wahre Glück zu erkennen: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen,“ schreibt er in seinem Mythos des Sisyphos, und er folgert: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Doch es lohnt sich, die Schlusssequenz seines Essays in Gänze zu lesen:

„Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. […] Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verachtenswert findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Tage. In diesem besonderen Augenblick, in dem der Mensch sich seinem Leben zuwendet, betrachtet Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt, die Reihe unzusammenhängender Handlungen, die sein Schicksal werden, als von ihm geschaffen, vereint unter dem Blick seiner Erinnerung und bald besiegelt durch den Tod. Derart überzeugt vom ganz und gar menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat, ist er immer unterwegs. Noch rollt der Stein. […] Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Quelle 3: In der Ruhe liegt nicht nur die Kraft, sondern auch der Trost

„Sieh, wie alles so still ist drüben in der Unendlichkeit, wie leise ziehen die Welten, wie still schimmern die Sonnen! Der große Ewige ruht wie eine Quelle, mit seiner überfließenden unendlichen Liebe mitten unter ihnen und erquickt und beruhigt alles.“

Johann Paul Friedrich Richter alias Jean Paul

Still ist es in der Unendlichkeit! Leise ziehen die Welten! Still schimmern die Sonnen! Wie eine Quelle ruht der Ewige Beruhiger! Tröstung ist Beruhigung, in der Ruhe und Stille liegt Trost.

Ernst Joachim Förster: Jean Paul dichtet in seiner Gartenlaube in Bayreuth (ca. 1820)

Peter Handke und das Begütigende

In seiner 1980 geschriebenen und im selben Jahr veröffentlichten Erzählung Die Lehre der Sainte-Victoire verwendet Peter Handke die Vokabel „begütigend“. Wenn „begütigen“ auch nicht dasselbe meint wie „Trost spenden“ (was seinerseits weniger unmittelbar klingt als „trösten“), so wird man doch annehmen dürfen, dass das Begütigende auf seine Weise auch Trost spendet. „Mein Ideal“, schreibt Handke, „waren seit je der sanfte Nachdruck und die begütigende Abfolge einer Erzählung.“ Eine ideale Erzählung ist nach Peter Handke demnach eine Trost spendende im engeren oder weiteren Sinn. Ein paar Seiten weiter antwortet D., die aus einer schwäbischen Kleinstadt stammende und jetzt in Paris lebende Kleidermacherin, auf die Frage des Erzählers, „wozu sie ihren Freund bräuchte“: „Worte allein begütigen mich zu wenig.“ Begütigung, Erzählung, Beziehung, Trost – anscheinend ist das (wenigstens bei Handke) alles eins.

Trösten heißt (wieder) zuversichtlich machen

Heinrich Heine
Das Fräulein stand am Meere
(August 1832)

Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.

Caspar David Friedrich: Frau vor der unter– oder aufgehenden Sonne, 1818, Öl auf Leinwand, 22 x 30 cm (Museum Folkwang, Essen)

Der Titel dieses Gemäldes lautet wahlweise: „Frau vor der untergehenden Sonne“, „Sonnenuntergang“, „Sonnenaufgang“, „Frau in der Morgensonne“, „Morgenlicht“. Da hier kein Meer zu sehen ist, entscheide ich mich für die „Frau in der Morgensonne“. Denn nimmt man die fiktive Szene in Heines Gedicht und kombiniert sie mit Caspar David Friedrichs Szenario zu einer Art Liebes-Drama („Drama“ im kategorialen Sinn) in zwei Akten, so zeigt das Gemälde gewissermaßen den Morgen danach. Der Tröster vom Vorabend hat sich entweder schon davongemacht oder ist in die Rolle des Malers geschlüpft, um die Szene in Ermangelung eines Fotoapparats im Bild festzuhalten.

Beruhigend und tröstlich wie das Einfache und Notwendige

„‚Breite Wellen …‘, sagte Thomas Buddenbrook. ‚Wie sie daherkommen und zerschellen, eine nach der anderen, endlos, zwecklos, öde und irr. Und doch wirkt es beruhigend und tröstlich, wie das Einfache und Notwendige. Mehr und mehr habe ich die See lieben gelernt … vielleicht zog ich ehemals das Gebirge nur vor, weil es in weiterer Ferne lag. Jetzt möchte ich nicht mehr dorthin. Ich glaube, daß ich mich fürchten und schämen würde. Es ist zu willkürlich, zu unregelmäßig, zu vielfach … sicher, ich würde mich allzu unterlegen fühlen. Was für Menschen es wohl sind, die der Monotonie des Meeres den Vorzug geben? Mir scheint, es sind solche, die zu lange und tief in die Verwicklungen der innerlichen Dinge hineingesehen haben, um nicht wenigstens vor allem eins verlangen zu müssen: Einfachheit … Es ist das wenigste, daß man tapfer umhersteigt im Gebirge, während man am Meer still im Sande ruht. Aber ich kenne den Blick, mit dem man dem einen, und jenen, mit dem man dem andern huldigt. Sichere, trotzige, glückliche Augen, die voll sind von Unternehmungslust, Festigkeit und Lebensmut, schweifen von Gipfel zu Gipfel; aber auf der Weite des Meeres, das mit diesem mystischen und lähmenden Fatalismus seine Wogen heranwälzt, träumt ein verschleierter, hoffnungsloser und wissender Blick, der irgendwo erstmals tief in traurige Wirrnisse sah … Gesundheit und Krankheit, das ist der Unterschied. Man klettert keck in die wundervolle Vielfalt der zackigen, ragenden, zerklüfteten Erscheinungen hinein, um seine Lebenskraft zu erproben, von der noch nichts verausgabt wurde. Aber man ruht an der weiten Einfachheit der äußeren Dinge, müde wie man ist von der Wirrnis der inneren.'“

Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt am Main 1960 [zuerst 1901], S. 671 f.

Das Bild zum Zitat habe ich vorgestern in diesem Beitrag veröffentlicht.

Gemütvoller Trost

In seiner 1968 als Buch erschienenen Dissertation Trauer und Trost stellt Horst-Theodor Johann fest, dem deutschen Wort Trost eigne „ein Gemütston, der dem παραμυθητικóς (λóγος) wie der consolatio fremd ist.“ Ist der deutsche Trost „gemütlicher“ als der altgriechische und der römische, oder auch der Trost der Engländer und der Franzosen, deren gemeinsamer sprachlicher Ausdruck „consolation“ aufs Lateinische zurückgeht?

Die Herkunft des deutschen Wortes „Trost“ habe ich hier ein Stück weit aufzuzeigen versucht. Die emotionale Aura der Vokabel  wurde dabei nicht thematisiert. Ob die Deutschen gemütvoller trösten als die Römer bzw. Italiener, Engländer und Franzosen „consolieren“, kann und soll hier nicht entschieden werden. Wenn es nicht zu gewagt und ein wenig überstürzt wäre, würde ich in diesem Zusammenhang die These formulieren, dass eine spezielle, sozusagen evangelische Kultur des Tröstens in der Nachfolge der vom deutschen Sprachraum ausgehenden Reformation entstanden und mittlerweile von der katholischen Seelsorge ökumenisch adaptiert worden ist. Nirgends wird so hingebungs- und, wenn man so will, gemütvoll die Unauflöslichkeit der symbiotischen Verbindung von Leiden-Müssen, Trösten und Getröstet-Werden zelebriert wie in der Evangelischen Kirche. Es kommt mir so vor, als wären sämtliche irgendwann einmal vorhandenen thymotischen Energien restlos transformiert in solche eines dialektischen Eros von Leid und Tröstung. Dass die Konnotationen des Wortes Trost diese Transformation irgendwie reflektieren, liegt in der Natur der Sprache. „Gemütvoll“ wäre dann aber nicht das einzige Prädikat, das dem evangelisch gewordenen deutschen Trost bzw. „Trost“ zuzusprechen wäre.

Was Horst-Theodor Johann meint, wenn er sagt, dass unserem Wort Trost ein besonderer Gemütston eigne, verdeutlicht und illustriert möglicherweise diese tröstliche Kombination aus einem Gedicht von Ludwig Uhland und einer Radierung von Johann Wilhelm Schirmer. Gefunden habe ich sie auf der Website www.goethezeitportal.de.

Radierung von Johann Wilhelm Schirmer (geb. 1807 in Jülich, gest. 1863 in Karlsruhe)

Ludwig Uhland
Künftiger Frühling (1827)

Wohl blühet jedem Jahre
Sein Frühling mild und licht,
Auch jener große, klare –
Getrost! er fehlt dir nicht;
Er ist dir noch beschieden
Am Ziele deiner Bahn,
Du ahnest ihn hienieden,
Und droben bricht er an.

Trost-Module 2: Den Leidenden zu Trost und Belehrung

Lothar Rumold: Lodovico Settembrinis Handapparat der literarischen Tröstung, 2018, Tablet-Zeichnung, Fotografie

Eine Zusammenfassung und kurzgefasste Analyse aller für jeden erdenklichen Konflikt in Betracht kommenden Meisterwerke der Weltliteratur zu verfassen – das hat sich Lodovico Settembrini „den Leidenden zu Trost und Belehrung“ in Thomas Manns Roman Der Zauberberg zur Aufgabe gemacht. (Im vorangehenden Blog-Beitrag ist davon ausführlich die Rede gewesen.) Warum nicht eine Auswahl dieser Meisterwerke als eine Art Handapparat der literarischen Tröstung in voller Länge und Breite Trost Suchenden an einem geeigneten Ort (beispielsweise unter Bäumen in der Nähe einer Quelle oder Bar) zur Verfügung stellen?

Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele

Hugo von Hofmannsthal
Ballade des äußeren Lebens

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.

Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.

Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende, und totenhaft verdorrte …

Wozu sind diese aufgebaut und gleichen
Einander nie? und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?

Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?

Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der „Abend“ sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.

Dieses Gedicht wurde von dem noch jungen österreichischen Dichter Hugo von Hofmannsthal im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts geschrieben und veröffentlicht. Wenn aus dem Wort „Abend“ Tiefsinn und Trauer rinnt, wie es in der letzten Strophe heißt, so kann man diese Feststellung getrost auf das ganze Gedicht übertragen. Getrost? Haben wir es hier nicht mit einer Aneinanderreihung von Metaphern der Untröstlichkeit zu tun? Was soll tröstlich sein an und in diesen Zeilen am Rande des Apokalyptischen? Ich weiß es nicht, darf aber zu Protokoll geben, dass ich in dieser einsamen Melodie der Traurigkeit durchaus und durchaus deutlich eine tröstliche Schwingung wahrnehme. Ein Trost in Moll, aber ein Trost allemal. Melancholie ist der paradoxe Seinsmodus des Trost-Findens in der Untröstlichkeit. Vielleicht hat es damit zu tun.

Zur Semantik und Etymologie von „Trost“

ich hân trôst daz mir noch fröide bringe
der ich mînen kumber hân geklaget.

(Ich bin voller Zuversicht, dass diejenige mir noch Freude bereiten wird,
der ich mein Leid geklagt habe.)

Walther von der Vogelweide: Neue hohe Minne (1210-1220)

Die Frage nach dem Wesen des Trosts ist von der Frage nach der Bedeutung des Wortes Trost nicht zu trennen. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ist ein anderer sprachlicher Ausdruck, pflegte einer meiner Heidelberger Professoren zu sagen, er war bzw. ist Lexikologe, also Spezialist für Wörterbücher. „Das Deutsche Wörterbuch (DWB) ist das größte und umfassendste Wörterbuch zur deutschen Sprache seit dem 16. Jahrhundert“ sagt Wikipedia. Unter dem Stichwort Trost findet sich dort u. a.:

„Trost“ ist verwandt mit dem altnordischen „traust“, das „Sicherheit, Zuversicht, Mut“, aber auch „Hilfe“ und „Schutz“ bedeutet.

Aus dem Nordischen entlehnt ist das mittelenglische „trust“. Noch im gleichlautenden neuenglischen Wort ist die alte Bedeutung „Vertrauen“ festgehalten.

Vielleicht nicht nur für mich interessant: das alte Wort „traust“ (s. o.) weist zurück auf ein indogermanisches Wort, das „Kernholz, Festigkeit“ bedeutet. (Das gotische „triu“ heißt „Baum“ – ich denke dabei an englisch „tree“ und deutsch „treu“.)

Das Wort Trost ist „seinem eigentlichen wesen nach mehr ein wort der literatur als der umgangssprache und der mundarten“, weshalb „die dialektischen abweichungen in der lautform verhältnismäszig gering“ sind.

Die etymologische Verwandtschaft mit „trauen“ wird deutlich, wenn man „Trost“ paraphrasiert mit „festigkeit, aus welcher sicherheit und weiterhin, als subjektives gefühl sich äuszernd, zuversicht und vertrauen entspringt“.

Die heutige (oder beinahe heutige – der Artikel wurde Mitte des 19. Jahrhunderts verfasst) Bedeutung von „Trost“ kann man umschreiben mit „Festigkeit, die durch Zuspruch als seelische Stärkung gegeben oder erhalten wird“. Diese neuere Bedeutung „die trost weniger als sichtbare hilfe denn als seelische stärkung zeigt“, erwächst aus der religiösen Verwendung des Wortes, die das ganze Mittelalter durchzieht, und in der „die alten bedeutungen gleichsam mit aufgesogen sind“.

Den ganzen Wörterbuch-Artikel der Brüder Grimm findet man hier.

Komm, Trost der Welt, du stille Nacht!

Joseph von Eichendorff (1788-1857)
Der Einsiedler

Komm, Trost der Welt, du stille Nacht!
Wie steigst du von den Bergen sacht,
Die Lüfte alle schlafen,
Ein Schiffer nur noch, wandermüd,
Singt übers Meer sein Abendlied
Zu Gottes Lob im Hafen.

Die Jahre wie die Wolken gehn
Und lassen mich hier einsam stehn,
Die Welt hat mich vergessen,
Da tratst du wunderbar zu mir,
Wenn ich beim Waldesrauschen hier
Gedankenvoll gesessen.

O Trost der Welt, du stille Nacht!
Der Tag hat mich so müd gemacht,
Das weite Meer schon dunkelt,
Lass ausruhn mich von Lust und Not,
Bis dass das ew’ge Morgenrot
Den stillen Wald durchfunkelt.

Wikipedia-Artikel zur Lyrik Joseph von Eichendorffs