Trost-Module 5: Trost im Spiegel

Wollte jemand einen Garten des Trostes anlegen, so würde ich den Vorschlag machen, in der Nähe des Zentrums dieses Gartens eine große, etwa drei Meter hohe Holz-Stele aufzustellen, auf welcher in Spiegelschrift das Wort TROST zu lesen bzw. nicht zu lesen wäre. Denn wirklich lesen könnte man das Wort erst, wenn man nicht mehr auf die Stele, sondern in die Wasserfläche vor der Stele blicken würde. Die Grundidee für diesen möglichen Vorschlag verdanke ich dem schottischen Künstler Ian Hamilton Finlay (1925-2006), der 1975 in Stuttgart-Büsnau eine ähnliche Arbeit unter Verwendung des Wortes Schiff realisiert hat. Es wäre interessant zu erfahren, auf welchem Weg Finlay zu diesem Einfall kam.

Der besondere Charme des Objekts liegt für mich in seiner Indirektheit, also darin, dass es sich der Betrachterin (aber auch dem Betrachter) erst dann vollständig erschließt, wenn sie (er) ihren (seinen) Blick von ihm (dem Objekt) abwendet und auf die davor befindliche Wasserfläche richtet. Die, wenn man so will, geheime Botschaft lautet: Wir sehen (erkennen) etwas erst, wenn wir es nicht mehr sehen (fixieren) und wir finden Trost vielleicht am ehesten dort, wo wir gar nicht danach gesucht haben.

Auch hat Trost, abstrakt gesagt, etwas mit dem Umschlagen oder dem Sich-Wenden des Negativen ins Positive zu tun. Wobei der Trost weniger die Wende selbst ist (die muss im Leben stattfinden) als vielmehr die Aussicht auf die Wende, die konkrete Ahnung ihrer realen Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, bis hin zur Gewissheit der Wiederkehr des Guten. (Was ist der christliche Trost anderes als die Erinnerung an die christliche Glaubensgewissheit der Letzten Wende, bestehend in der Wiederkehr Jesu Christi am Ende der Zeit.)

TROST-Stele für einen TROST-GARTEN, Modell 1:10, Maße der Ausführung: 285 x 70 x 45 cm

Klassizistischer Trost oder Die schöne Seite der Untröstlichkeit

Thomas Banks: Thetis taucht mit ihren Nymphen aus dem Meer auf, um Achill über den Verlust des Patroklos zu trösten, 1778, Marmor, 91,4 x 119 cm

Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich in dieser Szene zurechtgefunden hatte. Mein stereotypisiertes Auge respektive Hirn sah auf den ersten Blick (und noch bevor es wirklich etwas gesehen hatte) eine andere Pietà, die Pietà des englischen Bildhauers Thomas Banks (1735-1805) eben. Dann las ich den Titel und sah noch immer eine Frau, die ihren Sohn in Armen hält, nicht den toten Christus, sondern den sich in Schmerzen über den verlorenen Freund windenden, gleichwohl noch nicht (durch den Pfeil des Paris) getöteten Achilleus. Die Dame hat aber ein erstaunlich muskulöses Bein, war mein dritter Gedanke – und erst da ging mir auf, dass der durchtrainierte Mann in der Mitte nicht Achilles, sondern (der im Zweikampf von Hektor getötete) Patroklos ist. Achills Mutter Thetis ist mit ihren Nymphen, wie der Titel informiert, gerade erst aus dem Meer aufgetaucht und strebt Richtung Sohn, der untröstlich am rechten Bildrand den Arm um den schönen Leichnam gelegt hat, als wollte er dem Verblichenen im Tod noch Trost spenden.

An Gesten der ruhigen Klage und der erregten Tröstungsbereitschaft herrscht hier kein Mangel. Allein man fragt sich, ob der tatsächlich und erfolgreich gespendete Trost ästhetisch gesehen nicht eine Katastrophe wäre. Schönheit und Untröstlichkeit sind bei Banks quasi dasselbe. Es gibt eine Form der Untröstlichkeit, die ihren Trost in sich selbst findet. Dass diese Untröstlichkeit schön ist, zeigt unmissverständlich, dass Trost das letzte wäre, was ihr in ihrem schönen, guten und wahren Bei-sich-Sein zupass käme. Achills Trostbedürftigkeit ist nichts als schöner Schein, um dessen überirdische, die Situation transzendierende Schönheit es sofort geschehen wäre, wenn der Tröstungswunsch der Mutter in Erfüllung ginge. Aber was für Achill und Patroklos gilt, gilt auch für Thetis und ihre Nymphen: die schöne Geste ist es, worauf es bei ihnen vor allem, um nicht zu sagen: ausschließlich ankommt.

Der Klassizismus sublimiert auch noch die bittersten Aspekte menschlichen Daseins, er zeigt, nein: er verherrlicht auch diese als unverzichtbare Element des Guten, Wahren und Schönen. Seine Ästhetik ist eine Ästhetik der Bejahung des unteilbaren Ganzen. Wer hier erfolgreich und zugleich ästhetisch befriedigend trösten wollte, müsste vorab zeigen, dass der getröstete Achill mindestens genauso schön ist wie der untröstliche.

Trost-Module 4: Einen Weg des Trosts gehen

Einen Menschen, der unter einer veritablen Depression leidet, trösten zu wollen, käme einem Griff in die falsche Schublade des Großen Arzneischranks der psychologisch-psychiatrischen Hilfsmittel gleich. Statt mit Kanonen auf Spatzen, würde man mit einem Luftgewehr auf ein Nashorn schießen wollen. Dennoch sind die Depression und das durch Trost zu lindernde seelische Leid einander nicht ganz und gar unähnlich und fremd. Es gibt vermutlich sogar eine Schnittmenge der betreffenden Phänomen-Klassen. In einem Buch, in dem jemand über seine Depression (vom Autor „Miststück“ genannt), schreibt, nach Hinweisen zur möglichen Tröstung von Trostbedürftigen zu suchen, ist also wohl nicht ganz und gar abwegig.

In seinem hier schon mehrfach erwähnten Selbsterfahrungsbericht schreibt Alexander Wendt: „Depression im einsamen, unbehandelten rohen Zustand bedeutet, im Kreis zu laufen, wobei der Radius sich enger und enger zieht.“ (Wendt 2016, S. 91) Die Erfahrung des trostlosen und untröstlichen Im-Kreis-Gehens ist auch dem Trostbedürftigen (wie jeder aus eigener Erfahrung wissen wird) nicht fremd. Wäre es meine Aufgabe, eine Art Parcours der Tröstung anzulegen, dürfte demnach ein Spiral-Weg des Trosts nicht fehlen:

Man kann, ja man muss diesen Weg in beide Richtungen gehen. Erst von außen nach innen, also in die depressive Stimmung hinein, dann notwendig (und damit womöglich die Seelen-Not wenigstens im Ansatz ins Gegenteilige wendend) von innen nach außen, also aus der depressiven Gemütslage hinaus und ins Offene. Gegen das Zentrum der Spirale hin (etwa infolge gärtnerischer Maßnahmen) sollte die Enge zunehmen, während an der Peripherie eher Offenheit bzw. Öffnung erfahrbar sein würde.

Peter Riede schreibt in seinem Artikel über Trost/Tröster/trösten in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet:

„Zunächst einmal ist davon auszugehen, dass sowohl beim Trösten wie beim Empfinden von Leid eine Situation vorausgesetzt ist, die einen Menschen bedrückt und fast erstickt.“ „Wo die Wurzel נחם nḥm im Alten Testament verwendet wird, geht es demnach um einen Vorgang der Erleichterung, wie er z.B. im Fall einer Atemnot durch tiefes Luftholen vorausgesetzt ist. Bezogen auf die Bedeutung ‚trösten‘ ergibt sich daraus die Konsequenz, dass dieses geschieht, um einem anderen das Aufatmen und so die Rückkehr ins Leben zu ermöglichen.“

Den Weg hinein bis ins Zentrum der Spirale könnte man demnach als den Weg des Ausatmens bis hin zur Atemnot, den Weg zurück und wieder hinaus ins Offene als den des Ein- oder befreiten Aufatmens bezeichnen.

Lothar Rumold: Skizze zu einem von einer Hecke gesäumten Weg der möglichen Tröstung, 2018, Tablet-Zeichnung


Zu einer Form-Analyse des Tröstens

Auch zum Trösten gehören immer zwei: eine tröstende und eine getröstete Seite. Ziemlich abstrakt und eher technisch gesagt, haben wir es einerseits mit einem Trost-Sender bzw. Trost-Spender und andererseits einem Trost-Empfänger zu tun. Was empfangen bzw. gesendet oder gespendet wird, nennen wir Trost. Das Medium des Tröstens (faziale Interaktion, Telefongespräch, Brief-, Mail-, Whats-App- oder Chat-Kontakt, Gedankenübertragung usw. usf.) darf bei einer (hier nicht zu leistenden) vollständigen Form-Analyse nicht unberücksichtigt bleiben.

In anderer Redeweise kann man auch den Trost als Medium (das Mittlere, das Vermittelnde) des Getröstetwerdens der Zu-Tröstenden durch die Tröstenden bezeichnen.

Bis hierher habe ich mehr oder weniger explizit unterstellt, dass es sich nicht nur beim Trost-Empfänger, sondern auch beim Trost-S(p)ender um ein menschliches Wesen handelt. Könnte aber der Trost-S(p)ender nicht auch ein (äußerlich betrachtet) unbelebtes Objekt, eine Pflanze oder ein Tier sein? In diesem Fall wäre allerdings zwischen Trost-S(p)ender und Trost kein Unterschied mehr auszumachen.

Alternativ dazu, kann man etwa bei einem Kuscheltier, mit dem ein Kind getröstet wird, sagen: Die eigentliche Trösterin ist die Person oder die Personengruppe, die „hinter“ dem unbelebten Trost-Objekt steht, typischerweise also die Mutter, der Vater, die Tante, der Opa – und zwar selbst dann noch, wenn diese (Person oder Gruppe) in einer aktuellen Tröstungs-Situation gar nicht anwesend (sondern zum Beispiel ganz oder teilweise im Kino) ist. (Jeder weiß natürlich, dass ein Kuscheltier kein unbelebtes Objekt ist, aber das kann und muss hier nicht näher ausgeführt werden.)

Womit ich sagen will: Ich favorisiere ein Tröstungs-Modell, bei dem Trösten formal als Sonderfall menschlichen Handelns analysiert wird. Eine Theorie des Tröstens wäre dann Teil einer universellen Theorie des menschlichen Handelns. An diesem Modell der Tröstung als Handlung theoretisch festzuhalten, wird dort schwierig, wo zwar ein Trost-Medium (im o. g. zweiten Sinn von „Medium“), aber nicht ohne weiteres ein Trost-S(p)ender festgestellt werden kann. Wenn also ein Medikament oder eine (im Laden gekaufte) Flasche Rotwein oder irgendein symbolisches Artefakt tröstende Wirkung zeigt, dann wird man wohl nicht in erster Linie (und schon gar nicht ausschließlich) den Pharmakonzern, den Weinhändler bzw. den französischen Winzer oder den Maler, der die Ikone gemalt hat, als Trost-S(p)ender in Betracht ziehen wollen. Mein Vorschlag wäre, in solchen Fällen von einer Tröstung durch ein Kollektiv von Kultur-Trägern auszugehen – oder wenn ein solches partout nicht auszumachen ist: von einem Fall von Tröstung durch das Leben, die Natur oder durch Gott, und damit letztlich doch wieder durch das Kultur-Kollektiv, das diese „Gegenstände“ hypostasiert bzw. im kulturellen Angebot hat. (Die weltanschaulich-philosophisch-religiösen Implikation meines Modells müssen hier unausgesprochen bleiben, doch soll nicht auf den Hinweis verzichtet werden, dass es sie gibt. Das gilt übrigens für jedes Modell im Rahmen jeder Theorie.)

TS > T > TE

Die Kürzel TS, T und TE in der obigen Formel sind mit Links zu drei Extra-Seiten unterlegt, auf denen weitere Ausführungen zur jeweils gemeinten Objekt-Klasse oder -Menge zu finden sind bzw. in Bälde zu finden sein werden.

P. S.: Ein weiterer Versuch im Rahmen einer Theorie des Trostes müsste sich mit der Frage befassen, ob beim hier skizzierten bipolaren Tröstungs-Modell am S(p)ender-Pol wirklich nur Aktivisten und am Empfänger-Pol wirklich nur (wie es die Ausdrucksseite der Begriffe suggeriert) passiv Empfangende zu denken sind. Aber das nur nebenbei.

Vom Kelch des Trostes

Die eine spezifisch christliche und potentiell tröstliche Antwort auf die Frage nach dem (christlichen) Trost und den Möglichkeiten der (christlichen) Tröstung scheint es zunächst nicht zu geben. Die Auskunft, dass der christliche Glaube selbst als Daseins-Modus des Ein-für-alle-mal-getröstet-Seins (unter der Bedingung des vorbehaltlosen Vertrauens in Gott) nur ein anderes Wort für Trost sei, führt geradewegs in die Endlosschleifen der Tautologie. Wer als Trost nur alles (Gott) zu bieten hat, hat für hier und jetzt erklärtermaßen nichts zu bieten. Auch der Hinweis darauf, dass der christliche Gott in der Passion des zu Tröstenden zwar in höchstem Maße mitleidend, doch fürs erste machtlos gegenwärtig sei, wirkt auf Trostsuchende, die mit den christlichen Dogmen wenig bis gar nicht vertraut sind (was wohl auch für die meisten sogenannten Christen gilt), eher irritierend als tröstlich.

Dennoch gibt es womöglich etwas, was das Christentum metaphorisch und real zugleich zu bieten, um nicht zu sagen: darzureichen hat. Es ist dies der Becher des Trostes, in dem sich wahlweise oder als immateriell-materielles Konglomerat menschlicher Zuspruch, konkrete Hilfe aller Art, heißer Tee oder vergorener Traubensaft befinden könnten. Im von Christian Schütz herausgegebenen Praktischen Lexikon der Spiritualität (Freiburg 1992) findet man zum Symbol des Trostbechers diese Ausführungen:

„Das ganzheitliche biblische Verständnis des Trostes (in Wort und Tat) findet seinen zeichenhaften Ausdruck in der Übergabe des ‚Trostbechers‘, den der Tröstende dem Trauernden überreicht. Dabei kann auch Brot gegessen werden. Dieses Symbolhandeln gewinnt im Abendmahl Jesu mit den Jüngern seine wohl letztmögliche soteriologische und eschatologische Dimension. Der Becher des Heils ist ein Becher des Trostes: des Zuspruchs der gegenwärtigen und zukünftigen Gnade und des Erbarmens des menschgewordenen Gottes in der bestehenden geschichtlichen und persönlichen Situation mit dem Anspruch, die Verkündigung des ‚Todes des Herrn‘ und seiner Auferstehung, ‚bis er wiederkommt‘, in die Gegenwart als ein Handeln einzubringen, das sich an der Geschwisterlichkeit des verkündigten Jesus Christus orientiert.“

Das Gegenstück zum Becher des Trosts ist der Kelch des Leids, im bangen Vorausblick auf welchen Jesus Christus sich vom Vater vergebens wünschte, er möge an ihm vorübergehen. Man ahnt: Trost-Becher und Passions-Kelch sehen sich im christlichen Symbolraum zum Verwechseln ähnlich. Wo der Becher des Trosts gereicht wird, muss immer auch der Kelch des Mitleidens geleert werden. Trost und Leid sind die zwei Seiten derselben religiösen Medaille, Passion, Tröstung und christlicher Glaube bilden die dreifache Schnur, von der es in Prediger 4, Vers 12 heißt, sie reiße nicht leicht entzwei.

Ich danke Dr. theol. Matthias Wörther für seine fachkundige Zitatauswahl und für die Liste der folgenden Nachschlagewerke (für die Schlüsse, die ich aufgrund der Lektüre gezogen habe, trage ich natürlich die alleinige Verantwortung):

Praktisches Bibellexikon, 2. Auflage, Freiburg 1977

K. Rahner / H. Vorgrimler: Kleines theologisches Wörterbuch, 11. Auflage, Freiburg 1978

Christian Schütz (Hrsg.): Praktisches Lexikon der Spiritualität, Freiburg 1992

Prof. Dr. Peter Riede: Trost/Tröster/trösten, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), permanenter Link zum Artikel

Leonardo da Vinci: Das Abendmahl, 1494-97, 422 x 904 cm

Stil, Eleganz und andere Äußerlichkeiten als Quellen des Trostes

„Niemand gelangt ohne weiteres zur Frivolität. Sie ist ein Privileg und eine Kunst; sie ist die Bemühung um Oberflächlichkeit aller jener, die Gewißheiten verabscheuen, weil sie deren Unmöglichkeit eingesehen haben. Sie ist das Forteilen von Abgründen, die, da sie naturgemäß keinen Boden haben, nirgendwohin führen können.
Indessen, es bleibt die ‚äußere Gestalt‘: warum sollte man sie nicht zu einem Stil erheben? Hier liegt das Kriterium für die Vernunft einer Epoche. Man gelangt dahin, daß man dem Ausdruck mehr Reiz abgewinnt als der Seele, die ihn trägt, daß man Anmut höher wertet als Einfühlung und selbst bei Gemütsbewegungen auf ‚Schliff‘ achtet. Der sich selbst Überlassene, derjenige, der nicht auf seine Eleganz achtet, ist ein Ungeheuer: in seinem Innern gibt es nur finstere Bereiche, wo Schrecken und Verneinung drohend ihr Wesen treiben. Von allen seinen Lebenskräften darüber belehrt werden, daß man stirbt, und dies nicht verbergen können, heißt ein Barbar sein.“

Emil Cioran: Lehre vom Zerfall, S. 13 f.

Unter diesem Aspekt gilt: „Das Zeitalter des Alkibiades und das achtzehnte Jahrhundert in Frankreich sind zwei Quellen des Trostes.“ (Ebd., S. 13)

Was also, könnte man verallgemeinernd fragen, haben „Äußerlichkeiten“ mit Tröstung zu tun? Welches Trost-Potential liegt in einem sorgfältig gewählten, stilistisch überzeugenden, um nicht zu sagen: eleganten Outfit, in einer aufgeräumten und sauberen Wohnung, in einer Frisur, die den Namen verdient, in einem gepflegten und mit Bedacht angelegten Garten und so weiter und so fort? Halte die Ordnung und die Ordnung hält dich, habe ich vor Jahrzehnten jemanden voller Verachtung für solch altbacken-faschistoides Gerede sagen bzw. zitieren hören. Hatte er mit seiner Geringschätzung der sogenannten Sekundärtugend Ordnungsliebe recht? Nein, hatte er nicht. Allerdings besteht im Ernstfall dann wohl die Schwierigkeit oft darin, nicht passiv in der Untröstlichkeit zu verharren, sondern die Bude aufzuräumen und das Geschirr abzuwaschen, statt durch die Kultivierung von Schmutz und Unordnung die Depression zu einer nachhaltigen zu machen.

Trost-Module 2: Den Leidenden zu Trost und Belehrung

Lothar Rumold: Lodovico Settembrinis Handapparat der literarischen Tröstung, 2018, Tablet-Zeichnung, Fotografie

Eine Zusammenfassung und kurzgefasste Analyse aller für jeden erdenklichen Konflikt in Betracht kommenden Meisterwerke der Weltliteratur zu verfassen – das hat sich Lodovico Settembrini „den Leidenden zu Trost und Belehrung“ in Thomas Manns Roman Der Zauberberg zur Aufgabe gemacht. (Im vorangehenden Blog-Beitrag ist davon ausführlich die Rede gewesen.) Warum nicht eine Auswahl dieser Meisterwerke als eine Art Handapparat der literarischen Tröstung in voller Länge und Breite Trost Suchenden an einem geeigneten Ort (beispielsweise unter Bäumen in der Nähe einer Quelle oder Bar) zur Verfügung stellen?

Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele

Hugo von Hofmannsthal
Ballade des äußeren Lebens

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.

Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.

Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende, und totenhaft verdorrte …

Wozu sind diese aufgebaut und gleichen
Einander nie? und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?

Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?

Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der „Abend“ sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.

Dieses Gedicht wurde von dem noch jungen österreichischen Dichter Hugo von Hofmannsthal im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts geschrieben und veröffentlicht. Wenn aus dem Wort „Abend“ Tiefsinn und Trauer rinnt, wie es in der letzten Strophe heißt, so kann man diese Feststellung getrost auf das ganze Gedicht übertragen. Getrost? Haben wir es hier nicht mit einer Aneinanderreihung von Metaphern der Untröstlichkeit zu tun? Was soll tröstlich sein an und in diesen Zeilen am Rande des Apokalyptischen? Ich weiß es nicht, darf aber zu Protokoll geben, dass ich in dieser einsamen Melodie der Traurigkeit durchaus und durchaus deutlich eine tröstliche Schwingung wahrnehme. Ein Trost in Moll, aber ein Trost allemal. Melancholie ist der paradoxe Seinsmodus des Trost-Findens in der Untröstlichkeit. Vielleicht hat es damit zu tun.

Du Trost der Betrübten: Maria Consolatrix afflictorum

Gnadenbild der Muttergottes von Kevelaer, Kupferstich 1640

In der aus dem Mittelalter stammenden Lauretanischen Litanei (i. e.: die Litanei von Loreto, ein in vielerlei Hinsicht bemerkens- und besuchenswerter Wallfahrtsort in den italienischen Marken) wird Maria u. a. als „Consolatrix afflictorum“, d. h. als „Trösterin der Betrübten“ oder auch „Trost der Betrübten“ tituliert.

Kevelaer am Niederrhein gehört zu den bekannteren Wallfahrtsorten der Trösterin. Der oben abgebildete Kupferstich ist seinerseits die Abbildung eines Bildnisses. Er zeigt (in ziemlich freier Nachbildung) eine aus Lindenholz geschnitzte Statue, die in Luxemburg seit dem 17. Jahrhundert im Rahmen einer vorösterlichen Wallfahrt verehrt wird.

Oben habe ich durchblicken lassen, dass ich selbst auch einmal eine eher touristisch gemeinte (Wall-)Fahrt nach Loreto unternommen habe. Meine Frau und ich besuchten den Ort 2009 während unseres Sommerurlaubs in den schönen Marken. Die Mischung aus merkantilem Treiben und ostentativ gelebtem Glauben hat uns beeindruckt. Da es hier um das Thema Trost und Trösten geht, erlaube ich mir, eine Passage aus unserem damals gemeinsam verfassten Reisetagebuch wiederzugeben. Schauplatz der geschilderten Szene ist die Wallfahrtskirche, die Basilika vom Heiligen Haus (in letzterem war Maria in Nazareth aufgewachsen, aber das ist eine andere Geschichte):

„Eine große Zahl der reichlich vorhandenen Beichtstühle ist sozusagen in Betrieb, sie aufzusuchen scheint das Selbstverständlichste von der Welt zu sein. Ein alter Priester mit weißem Bart sitzt im erhöht angebrachten, offenen Absolutionsmöbel und spricht mit einer Frau, die, zu ihm aufschauend, vor ihm steht, die gefalteten Hände auf eine Armlehne gestützt. Während sie miteinander reden, bekräftigt er seine Worte mit sanftem Schulterklopfen – eine zu Herzen gehende, sinnbildhafte Szene des erkennbar nicht auf Augenhöhe gespendeten Trostes, deren Wert und Wahrheit uns über jede noch so schlüssige Religionskritik erhaben zu sein scheint.“

Im Augustinerorden ist der 4. September der Festtag für „Maria, Mutter des Trostes“ und in bestimmten Regionen ist der Samstag nach dem 28. August (Fest des Heiligen Augustinus) der „Tag der Maria vom Trost“.

Zur Semantik und Etymologie von „Trost“

ich hân trôst daz mir noch fröide bringe
der ich mînen kumber hân geklaget.

(Ich bin voller Zuversicht, dass diejenige mir noch Freude bereiten wird,
der ich mein Leid geklagt habe.)

Walther von der Vogelweide: Neue hohe Minne (1210-1220)

Die Frage nach dem Wesen des Trosts ist von der Frage nach der Bedeutung des Wortes Trost nicht zu trennen. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ist ein anderer sprachlicher Ausdruck, pflegte einer meiner Heidelberger Professoren zu sagen, er war bzw. ist Lexikologe, also Spezialist für Wörterbücher. „Das Deutsche Wörterbuch (DWB) ist das größte und umfassendste Wörterbuch zur deutschen Sprache seit dem 16. Jahrhundert“ sagt Wikipedia. Unter dem Stichwort Trost findet sich dort u. a.:

„Trost“ ist verwandt mit dem altnordischen „traust“, das „Sicherheit, Zuversicht, Mut“, aber auch „Hilfe“ und „Schutz“ bedeutet.

Aus dem Nordischen entlehnt ist das mittelenglische „trust“. Noch im gleichlautenden neuenglischen Wort ist die alte Bedeutung „Vertrauen“ festgehalten.

Vielleicht nicht nur für mich interessant: das alte Wort „traust“ (s. o.) weist zurück auf ein indogermanisches Wort, das „Kernholz, Festigkeit“ bedeutet. (Das gotische „triu“ heißt „Baum“ – ich denke dabei an englisch „tree“ und deutsch „treu“.)

Das Wort Trost ist „seinem eigentlichen wesen nach mehr ein wort der literatur als der umgangssprache und der mundarten“, weshalb „die dialektischen abweichungen in der lautform verhältnismäszig gering“ sind.

Die etymologische Verwandtschaft mit „trauen“ wird deutlich, wenn man „Trost“ paraphrasiert mit „festigkeit, aus welcher sicherheit und weiterhin, als subjektives gefühl sich äuszernd, zuversicht und vertrauen entspringt“.

Die heutige (oder beinahe heutige – der Artikel wurde Mitte des 19. Jahrhunderts verfasst) Bedeutung von „Trost“ kann man umschreiben mit „Festigkeit, die durch Zuspruch als seelische Stärkung gegeben oder erhalten wird“. Diese neuere Bedeutung „die trost weniger als sichtbare hilfe denn als seelische stärkung zeigt“, erwächst aus der religiösen Verwendung des Wortes, die das ganze Mittelalter durchzieht, und in der „die alten bedeutungen gleichsam mit aufgesogen sind“.

Den ganzen Wörterbuch-Artikel der Brüder Grimm findet man hier.