Brahms: Ein deutsches Requiem I.

Johannes Brahms:
Ein deutsches Requiem
Nach Worten der Heiligen Schrift, op. 45

I. [Ziemlich langsam und mit Ausdruck. F-Dur, C]

Selig sind, die da Leid tragen,
denn sie sollen getröstet werden.

(Matthäus 5, 4)

Die mit Tränen säen,
werden mit Freuden ernten.
Sie gehen hin und weinen
und tragen edlen Samen,
und kommen mit Freuden
und bringen ihre Garben.

(Psalm 125, 5.6.)

Trösten kann heißen die Dinge beim Namen nennen

„Morgen werde ich dann wissen, wie es heißt, woher es kommt. Und wenn ich erst den Namen kenne, bringt dies Gift mich nicht mehr um.“

Hannes Wader: Unterwegs nach Süden, auf der LP: 7 Lieder

„Schon wenn das Bedrohliche einen Namen bekommt, büßt es Macht ein.“

Alexander Wendt: Du Miststück. Meine Depression und ich. Frankfurt am Main 2016 (S. Fischer Verlag)

Eine Enzyklopädie der Leiden

Wer Trost spenden möchte, muss sich über eines im Klaren sein: Die Arten und Weisen des Tröstens werden so vielgestaltig sein müssen wie die Leiden, die der gespendete Trost lindern soll. Die Leiden des Goetheschen Werthers erheischen andere Tröstungen als die neuen Leiden des jungen W. im gleichnamigen Roman von Ulrich Plenzdorf. Und wenn es, wie Paul Simon singt, „Fifty Ways to Leave Your Lover“ gibt, dann gibt es womöglich auch (mindestens) 50 verschiedene Arten, den verlassenen Lover zu trösten.

Ein regelmäßig wiederkehrendes Element der Erzählstruktur in Thomas Manns anderem Schwarzwaldklinik-Roman „Der Zauberberg“ sind die Gespräche zwischen dem Protagonisten Hans Castorp und Lodovico Settembrini, welcher sich, obschon im zwischenmenschlichen Nahbereich zu Sarkasmus und Misanthropie neigend, im Allgemeinen und im Prinzip als glühender Verfechter humanistischer Ideale und fortschrittlichster Ideen erweist. Bei einem dieser Gespräche skizziert Settembrini das von Barcelona aus koordinierte Projekt einer sozialrevolutionären Enzylopädie der Leiden, bei dem er, ungeachtet seines Daueraufenthalts in der Davoser Kurklinik, eine wichtige Aufgabe übernommen hat:

„Der ‚Bund zur Organisierung des Fortschritts‘, eingedenk der Wahrheit, daß seine Aufgabe darin besteht, das Glück der Menschheit herbeizuführen, mit anderen Worten: das menschliche Leiden durch zweckvolle soziale Arbeit zu bekämpfen und am Ende völlig auszumerzen, – eingedenk ferner der Wahrheit, daß diese höchste Aufgabe nur mit Hilfe der soziologischen Wissenschaft gelöst werden kann, deren Endziel der vollkommene Staat ist, – der Bund also hat in Barcelona die Herstellung eines vielbändigen Buchwerkes beschlossen, das den Titel ‚Soziologie der Leiden‘ führen wird, und worin die menschlichen Leiden nach allen ihren Klassen und Gattungen in genauer und erschöpfender Systematik bearbeitet werden sollen. Sie werden mir einwenden: Was nützen mich Klassen, Gattungen, Systeme! Ich antworte Ihnen: Ordnung und Sichtung sind der Anfang der Beherrschung, und der eigentlich furchtbare Feind ist der unbekannte. Man muß das Menschengeschlecht aus den primitiven Stadien der Furcht und der duldenden Dumpfheit herausführen und es zur Phase zielbewußter Tätigkeit leiten. Man muß es darüber aufklären, daß Wirkungen hinfällig werden, deren Ursachen man zuerst erkennt und dann aufhebt, und daß fast alle Leiden des Individuums Krankheiten des sozialen Organismus sind. Gut! Dies ist die Absicht der ‚Soziologischen Pathologie‘. Sie wird also in etwa zwanzig Bänden von Lexikonformat alle menschlichen Leidensfälle aufführen und behandeln, die sich überhaupt erdenken lassen, von den persönlichsten und intimsten bis zu den großen Gruppenkonflikten, den Leiden, die aus Klassenfeindschaften und internationalen Zusammenstößen erwachsen, sie wird, kurz gesagt, die chemischen Elemente aufzeigen, aus deren vielfältiger Mischung und Verbindung sich alles menschliche Leiden zusammensetzt, und indem sie die Würde und das Glück der Menschheit zur Richtschnur nimmt, wird sie ihr in jedem Falle die Mittel und Maßnahmen an die Hand geben, die ihr zur Beseitigung der Leidursachen angezeigt scheinen. Berufliche Fachmänner der europäischen Gelehrtenwelt, Ärzte, Volkswirte und Psychologen, werden sich in die Ausarbeitung dieser Enzyklopädie der Leiden teilen, und das General-Redaktionsbureau zu Lugano wird das Sammelbecken sein, in dem die Artikel zusammenfließen. Sie fragen mich mit den Augen, welche Rolle nun mir bei all dem zufallen soll? Lassen Sie mich zu Ende reden! Auch den schönen Geist will dieses große Werk nicht vernachlässigen, soweit er eben menschliches Leiden zum Gegenstande hat. Darum ist ein eigener Band vorgesehen, der, den Leidenden zu Trost und Belehrung [meine Hervorhebung, L. R.], eine Zusammenfassung und kurzgefaßte Analyse aller für jeden einzelnen Konflikt in Betracht kommenden Meisterwerke der Weltliteratur enthalten soll; und – dies ist die Aufgabe, mit der man in dem Schreiben, das Sie hier sehen, Ihren ergebensten Diener betraut.“

Karl O. spielt und singt O. Reutter

1.
Denk‘ stets, wenn etwas dir nicht gefällt:
„Es währt nichts ewig auf dieser Welt.“
Der kleinste Ärger, die größte Qual
Sind nicht von Dauer, sie enden mal.
Drum sei dein Trost, was immer es sei:
„In fünfzig Jahren ist alles vorbei.“

Otto Reutter (1870-1931) – die weiteren 15 oder 16 Strophen kann man hier nachlesen und dann vorsingen.

Komm, Trost der Welt, du stille Nacht!

Joseph von Eichendorff (1788-1857)
Der Einsiedler

Komm, Trost der Welt, du stille Nacht!
Wie steigst du von den Bergen sacht,
Die Lüfte alle schlafen,
Ein Schiffer nur noch, wandermüd,
Singt übers Meer sein Abendlied
Zu Gottes Lob im Hafen.

Die Jahre wie die Wolken gehn
Und lassen mich hier einsam stehn,
Die Welt hat mich vergessen,
Da tratst du wunderbar zu mir,
Wenn ich beim Waldesrauschen hier
Gedankenvoll gesessen.

O Trost der Welt, du stille Nacht!
Der Tag hat mich so müd gemacht,
Das weite Meer schon dunkelt,
Lass ausruhn mich von Lust und Not,
Bis dass das ew’ge Morgenrot
Den stillen Wald durchfunkelt.

Wikipedia-Artikel zur Lyrik Joseph von Eichendorffs