Wer Trost spenden möchte, muss sich über eines im Klaren sein: Die Arten und Weisen des Tröstens werden so vielgestaltig sein müssen wie die Leiden, die der gespendete Trost lindern soll. Die Leiden des Goetheschen Werthers erheischen andere Tröstungen als die neuen Leiden des jungen W. im gleichnamigen Roman von Ulrich Plenzdorf. Und wenn es, wie Paul Simon singt, „Fifty Ways to Leave Your Lover“ gibt, dann gibt es womöglich auch (mindestens) 50 verschiedene Arten, den verlassenen Lover zu trösten.
Ein regelmäßig wiederkehrendes Element der Erzählstruktur in Thomas Manns anderem Schwarzwaldklinik-Roman „Der Zauberberg“ sind die Gespräche zwischen dem Protagonisten Hans Castorp und Lodovico Settembrini, welcher sich, obschon im zwischenmenschlichen Nahbereich zu Sarkasmus und Misanthropie neigend, im Allgemeinen und im Prinzip als glühender Verfechter humanistischer Ideale und fortschrittlichster Ideen erweist. Bei einem dieser Gespräche skizziert Settembrini das von Barcelona aus koordinierte Projekt einer sozialrevolutionären Enzylopädie der Leiden, bei dem er, ungeachtet seines Daueraufenthalts in der Davoser Kurklinik, eine wichtige Aufgabe übernommen hat:
„Der ‚Bund zur Organisierung des Fortschritts‘, eingedenk der Wahrheit, daß seine Aufgabe darin besteht, das Glück der Menschheit herbeizuführen, mit anderen Worten: das menschliche Leiden durch zweckvolle soziale Arbeit zu bekämpfen und am Ende völlig auszumerzen, – eingedenk ferner der Wahrheit, daß diese höchste Aufgabe nur mit Hilfe der soziologischen Wissenschaft gelöst werden kann, deren Endziel der vollkommene Staat ist, – der Bund also hat in Barcelona die Herstellung eines vielbändigen Buchwerkes beschlossen, das den Titel ‚Soziologie der Leiden‘ führen wird, und worin die menschlichen Leiden nach allen ihren Klassen und Gattungen in genauer und erschöpfender Systematik bearbeitet werden sollen. Sie werden mir einwenden: Was nützen mich Klassen, Gattungen, Systeme! Ich antworte Ihnen: Ordnung und Sichtung sind der Anfang der Beherrschung, und der eigentlich furchtbare Feind ist der unbekannte. Man muß das Menschengeschlecht aus den primitiven Stadien der Furcht und der duldenden Dumpfheit herausführen und es zur Phase zielbewußter Tätigkeit leiten. Man muß es darüber aufklären, daß Wirkungen hinfällig werden, deren Ursachen man zuerst erkennt und dann aufhebt, und daß fast alle Leiden des Individuums Krankheiten des sozialen Organismus sind. Gut! Dies ist die Absicht der ‚Soziologischen Pathologie‘. Sie wird also in etwa zwanzig Bänden von Lexikonformat alle menschlichen Leidensfälle aufführen und behandeln, die sich überhaupt erdenken lassen, von den persönlichsten und intimsten bis zu den großen Gruppenkonflikten, den Leiden, die aus Klassenfeindschaften und internationalen Zusammenstößen erwachsen, sie wird, kurz gesagt, die chemischen Elemente aufzeigen, aus deren vielfältiger Mischung und Verbindung sich alles menschliche Leiden zusammensetzt, und indem sie die Würde und das Glück der Menschheit zur Richtschnur nimmt, wird sie ihr in jedem Falle die Mittel und Maßnahmen an die Hand geben, die ihr zur Beseitigung der Leidursachen angezeigt scheinen. Berufliche Fachmänner der europäischen Gelehrtenwelt, Ärzte, Volkswirte und Psychologen, werden sich in die Ausarbeitung dieser Enzyklopädie der Leiden teilen, und das General-Redaktionsbureau zu Lugano wird das Sammelbecken sein, in dem die Artikel zusammenfließen. Sie fragen mich mit den Augen, welche Rolle nun mir bei all dem zufallen soll? Lassen Sie mich zu Ende reden! Auch den schönen Geist will dieses große Werk nicht vernachlässigen, soweit er eben menschliches Leiden zum Gegenstande hat. Darum ist ein eigener Band vorgesehen, der, den Leidenden zu Trost und Belehrung [meine Hervorhebung, L. R.], eine Zusammenfassung und kurzgefaßte Analyse aller für jeden einzelnen Konflikt in Betracht kommenden Meisterwerke der Weltliteratur enthalten soll; und – dies ist die Aufgabe, mit der man in dem Schreiben, das Sie hier sehen, Ihren ergebensten Diener betraut.“