Trost für Hartgesottene

„Es ist ein universales Gesetz des Lebendigen: alles muss scheitern und es scheitert.“

Emil Cioran: Lehre vom Zerfall (1947)

Jean Louis Théodore Géricault: Das Floß der Medusa, 1818/19, Öl auf Leinwand, 491 x 716 cm

Géricaults Gemälde spielt an auf einen Vorfall am Rande des Untergangs der französischen Fregatte Méduse im Jahre 1816. Von den 149 Schiffbrüchigen auf dem Original-Floß konnten nur 10 gerettet werden.

Klassizistischer Trost oder Die schöne Seite der Untröstlichkeit

Thomas Banks: Thetis taucht mit ihren Nymphen aus dem Meer auf, um Achill über den Verlust des Patroklos zu trösten, 1778, Marmor, 91,4 x 119 cm

Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich in dieser Szene zurechtgefunden hatte. Mein stereotypisiertes Auge respektive Hirn sah auf den ersten Blick (und noch bevor es wirklich etwas gesehen hatte) eine andere Pietà, die Pietà des englischen Bildhauers Thomas Banks (1735-1805) eben. Dann las ich den Titel und sah noch immer eine Frau, die ihren Sohn in Armen hält, nicht den toten Christus, sondern den sich in Schmerzen über den verlorenen Freund windenden, gleichwohl noch nicht (durch den Pfeil des Paris) getöteten Achilleus. Die Dame hat aber ein erstaunlich muskulöses Bein, war mein dritter Gedanke – und erst da ging mir auf, dass der durchtrainierte Mann in der Mitte nicht Achilles, sondern (der im Zweikampf von Hektor getötete) Patroklos ist. Achills Mutter Thetis ist mit ihren Nymphen, wie der Titel informiert, gerade erst aus dem Meer aufgetaucht und strebt Richtung Sohn, der untröstlich am rechten Bildrand den Arm um den schönen Leichnam gelegt hat, als wollte er dem Verblichenen im Tod noch Trost spenden.

An Gesten der ruhigen Klage und der erregten Tröstungsbereitschaft herrscht hier kein Mangel. Allein man fragt sich, ob der tatsächlich und erfolgreich gespendete Trost ästhetisch gesehen nicht eine Katastrophe wäre. Schönheit und Untröstlichkeit sind bei Banks quasi dasselbe. Es gibt eine Form der Untröstlichkeit, die ihren Trost in sich selbst findet. Dass diese Untröstlichkeit schön ist, zeigt unmissverständlich, dass Trost das letzte wäre, was ihr in ihrem schönen, guten und wahren Bei-sich-Sein zupass käme. Achills Trostbedürftigkeit ist nichts als schöner Schein, um dessen überirdische, die Situation transzendierende Schönheit es sofort geschehen wäre, wenn der Tröstungswunsch der Mutter in Erfüllung ginge. Aber was für Achill und Patroklos gilt, gilt auch für Thetis und ihre Nymphen: die schöne Geste ist es, worauf es bei ihnen vor allem, um nicht zu sagen: ausschließlich ankommt.

Der Klassizismus sublimiert auch noch die bittersten Aspekte menschlichen Daseins, er zeigt, nein: er verherrlicht auch diese als unverzichtbare Element des Guten, Wahren und Schönen. Seine Ästhetik ist eine Ästhetik der Bejahung des unteilbaren Ganzen. Wer hier erfolgreich und zugleich ästhetisch befriedigend trösten wollte, müsste vorab zeigen, dass der getröstete Achill mindestens genauso schön ist wie der untröstliche.

Aus der Wunderkammer des Tröstlichen 2

Als der Trost der Tröste bzw. das Gegengift schlechthin galt (bzw. gilt mancherorts noch immer) der Bezoar (von persisch padzahr = Gegengift). Bezoar-Steine bilden sich aus unverdaulichem Material als verkrustete, steinartige Gebilde insbesondere in den Mägen von Wiederkäuern. Sie helfen gegen Wahnsinn, Krebs, Schwermut und andere Gebrechen. Also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch gegen (vermeintliche) Untröstlichkeit.

Bezoare im Apothekenmuseum im Heidelberger Schloss

Trost-Module 4: Einen Weg des Trosts gehen

Einen Menschen, der unter einer veritablen Depression leidet, trösten zu wollen, käme einem Griff in die falsche Schublade des Großen Arzneischranks der psychologisch-psychiatrischen Hilfsmittel gleich. Statt mit Kanonen auf Spatzen, würde man mit einem Luftgewehr auf ein Nashorn schießen wollen. Dennoch sind die Depression und das durch Trost zu lindernde seelische Leid einander nicht ganz und gar unähnlich und fremd. Es gibt vermutlich sogar eine Schnittmenge der betreffenden Phänomen-Klassen. In einem Buch, in dem jemand über seine Depression (vom Autor „Miststück“ genannt), schreibt, nach Hinweisen zur möglichen Tröstung von Trostbedürftigen zu suchen, ist also wohl nicht ganz und gar abwegig.

In seinem hier schon mehrfach erwähnten Selbsterfahrungsbericht schreibt Alexander Wendt: „Depression im einsamen, unbehandelten rohen Zustand bedeutet, im Kreis zu laufen, wobei der Radius sich enger und enger zieht.“ (Wendt 2016, S. 91) Die Erfahrung des trostlosen und untröstlichen Im-Kreis-Gehens ist auch dem Trostbedürftigen (wie jeder aus eigener Erfahrung wissen wird) nicht fremd. Wäre es meine Aufgabe, eine Art Parcours der Tröstung anzulegen, dürfte demnach ein Spiral-Weg des Trosts nicht fehlen:

Man kann, ja man muss diesen Weg in beide Richtungen gehen. Erst von außen nach innen, also in die depressive Stimmung hinein, dann notwendig (und damit womöglich die Seelen-Not wenigstens im Ansatz ins Gegenteilige wendend) von innen nach außen, also aus der depressiven Gemütslage hinaus und ins Offene. Gegen das Zentrum der Spirale hin (etwa infolge gärtnerischer Maßnahmen) sollte die Enge zunehmen, während an der Peripherie eher Offenheit bzw. Öffnung erfahrbar sein würde.

Peter Riede schreibt in seinem Artikel über Trost/Tröster/trösten in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet:

„Zunächst einmal ist davon auszugehen, dass sowohl beim Trösten wie beim Empfinden von Leid eine Situation vorausgesetzt ist, die einen Menschen bedrückt und fast erstickt.“ „Wo die Wurzel נחם nḥm im Alten Testament verwendet wird, geht es demnach um einen Vorgang der Erleichterung, wie er z.B. im Fall einer Atemnot durch tiefes Luftholen vorausgesetzt ist. Bezogen auf die Bedeutung ‚trösten‘ ergibt sich daraus die Konsequenz, dass dieses geschieht, um einem anderen das Aufatmen und so die Rückkehr ins Leben zu ermöglichen.“

Den Weg hinein bis ins Zentrum der Spirale könnte man demnach als den Weg des Ausatmens bis hin zur Atemnot, den Weg zurück und wieder hinaus ins Offene als den des Ein- oder befreiten Aufatmens bezeichnen.

Lothar Rumold: Skizze zu einem von einer Hecke gesäumten Weg der möglichen Tröstung, 2018, Tablet-Zeichnung


Zu einer Form-Analyse des Tröstens

Auch zum Trösten gehören immer zwei: eine tröstende und eine getröstete Seite. Ziemlich abstrakt und eher technisch gesagt, haben wir es einerseits mit einem Trost-Sender bzw. Trost-Spender und andererseits einem Trost-Empfänger zu tun. Was empfangen bzw. gesendet oder gespendet wird, nennen wir Trost. Das Medium des Tröstens (faziale Interaktion, Telefongespräch, Brief-, Mail-, Whats-App- oder Chat-Kontakt, Gedankenübertragung usw. usf.) darf bei einer (hier nicht zu leistenden) vollständigen Form-Analyse nicht unberücksichtigt bleiben.

In anderer Redeweise kann man auch den Trost als Medium (das Mittlere, das Vermittelnde) des Getröstetwerdens der Zu-Tröstenden durch die Tröstenden bezeichnen.

Bis hierher habe ich mehr oder weniger explizit unterstellt, dass es sich nicht nur beim Trost-Empfänger, sondern auch beim Trost-S(p)ender um ein menschliches Wesen handelt. Könnte aber der Trost-S(p)ender nicht auch ein (äußerlich betrachtet) unbelebtes Objekt, eine Pflanze oder ein Tier sein? In diesem Fall wäre allerdings zwischen Trost-S(p)ender und Trost kein Unterschied mehr auszumachen.

Alternativ dazu, kann man etwa bei einem Kuscheltier, mit dem ein Kind getröstet wird, sagen: Die eigentliche Trösterin ist die Person oder die Personengruppe, die „hinter“ dem unbelebten Trost-Objekt steht, typischerweise also die Mutter, der Vater, die Tante, der Opa – und zwar selbst dann noch, wenn diese (Person oder Gruppe) in einer aktuellen Tröstungs-Situation gar nicht anwesend (sondern zum Beispiel ganz oder teilweise im Kino) ist. (Jeder weiß natürlich, dass ein Kuscheltier kein unbelebtes Objekt ist, aber das kann und muss hier nicht näher ausgeführt werden.)

Womit ich sagen will: Ich favorisiere ein Tröstungs-Modell, bei dem Trösten formal als Sonderfall menschlichen Handelns analysiert wird. Eine Theorie des Tröstens wäre dann Teil einer universellen Theorie des menschlichen Handelns. An diesem Modell der Tröstung als Handlung theoretisch festzuhalten, wird dort schwierig, wo zwar ein Trost-Medium (im o. g. zweiten Sinn von „Medium“), aber nicht ohne weiteres ein Trost-S(p)ender festgestellt werden kann. Wenn also ein Medikament oder eine (im Laden gekaufte) Flasche Rotwein oder irgendein symbolisches Artefakt tröstende Wirkung zeigt, dann wird man wohl nicht in erster Linie (und schon gar nicht ausschließlich) den Pharmakonzern, den Weinhändler bzw. den französischen Winzer oder den Maler, der die Ikone gemalt hat, als Trost-S(p)ender in Betracht ziehen wollen. Mein Vorschlag wäre, in solchen Fällen von einer Tröstung durch ein Kollektiv von Kultur-Trägern auszugehen – oder wenn ein solches partout nicht auszumachen ist: von einem Fall von Tröstung durch das Leben, die Natur oder durch Gott, und damit letztlich doch wieder durch das Kultur-Kollektiv, das diese „Gegenstände“ hypostasiert bzw. im kulturellen Angebot hat. (Die weltanschaulich-philosophisch-religiösen Implikation meines Modells müssen hier unausgesprochen bleiben, doch soll nicht auf den Hinweis verzichtet werden, dass es sie gibt. Das gilt übrigens für jedes Modell im Rahmen jeder Theorie.)

TS > T > TE

Die Kürzel TS, T und TE in der obigen Formel sind mit Links zu drei Extra-Seiten unterlegt, auf denen weitere Ausführungen zur jeweils gemeinten Objekt-Klasse oder -Menge zu finden sind bzw. in Bälde zu finden sein werden.

P. S.: Ein weiterer Versuch im Rahmen einer Theorie des Trostes müsste sich mit der Frage befassen, ob beim hier skizzierten bipolaren Tröstungs-Modell am S(p)ender-Pol wirklich nur Aktivisten und am Empfänger-Pol wirklich nur (wie es die Ausdrucksseite der Begriffe suggeriert) passiv Empfangende zu denken sind. Aber das nur nebenbei.

Die Wiederholungsschleifen der Trauer

„Aber wie Esra sagt, der kleine depressive Informatiker von der B-Station: ‚Eine kleine Hypomanie wäre jetzt nicht schlecht.‘ Sie lässt sich auf jeden Fall besser aushalten als die Wiederholungsschleifen der Trauer.“

„Ich muss sagen, dass mir meine erste medikamenteninduzierte Hypomanie total schön vorkommt.“

Alexander Wendt: Du Miststück. Meine Depression und ich. Frankfurt am Main 2016 (S. Fischer Verlag), S. 54, 57

Porträt des Künstlers als Engel der Melancholie

Albrecht Dürer: Melencolia I, 1514, Kupferstich, 24,5 x 19,2 cmMel

Warum hält der dunkle Engel der Melancholie einen Zirkel in der Hand? Handelt es sich hier um eine Art geistiges Selbstporträt des Werk-Autors Albrecht Dürer, wie der Kunsthistoriker Erwin Panofsky mutmaßt? Für Alexander Wendt jedenfalls steht fest: „Wahrscheinlich gibt es keine großartigere und genauere Landkarte der eigenen Depression“. (Wendt 2016, S. 71) Wer sich im Labyrinth der Deutungsmöglichkeiten ein wenig herumführen lassen möchte: bei jedem Mausklick beginnt eine neue Führung, und zwar hier. Und wer sich dann auch noch durch die Links auf der verlinkten Seite klickt (es lohnt sich), weiß anschließend so ziemlich alles, was man über dieses Bild wissen kann. Am Ende bitte nicht vergessen, dem Führer ein Trinkgeld zu geben und hier einen Kommentar zu hinterlassen.

P. S.: Den Klein-Engel im Bild sieht Alexander Wendt übrigens in der Rolle des Arztes und nennt ihn „Doktor Putto auf dem Mühlstein, der kleine geflügelte Therapeut. Er macht sich Notizen.“

Vom Kelch des Trostes

Die eine spezifisch christliche und potentiell tröstliche Antwort auf die Frage nach dem (christlichen) Trost und den Möglichkeiten der (christlichen) Tröstung scheint es zunächst nicht zu geben. Die Auskunft, dass der christliche Glaube selbst als Daseins-Modus des Ein-für-alle-mal-getröstet-Seins (unter der Bedingung des vorbehaltlosen Vertrauens in Gott) nur ein anderes Wort für Trost sei, führt geradewegs in die Endlosschleifen der Tautologie. Wer als Trost nur alles (Gott) zu bieten hat, hat für hier und jetzt erklärtermaßen nichts zu bieten. Auch der Hinweis darauf, dass der christliche Gott in der Passion des zu Tröstenden zwar in höchstem Maße mitleidend, doch fürs erste machtlos gegenwärtig sei, wirkt auf Trostsuchende, die mit den christlichen Dogmen wenig bis gar nicht vertraut sind (was wohl auch für die meisten sogenannten Christen gilt), eher irritierend als tröstlich.

Dennoch gibt es womöglich etwas, was das Christentum metaphorisch und real zugleich zu bieten, um nicht zu sagen: darzureichen hat. Es ist dies der Becher des Trostes, in dem sich wahlweise oder als immateriell-materielles Konglomerat menschlicher Zuspruch, konkrete Hilfe aller Art, heißer Tee oder vergorener Traubensaft befinden könnten. Im von Christian Schütz herausgegebenen Praktischen Lexikon der Spiritualität (Freiburg 1992) findet man zum Symbol des Trostbechers diese Ausführungen:

„Das ganzheitliche biblische Verständnis des Trostes (in Wort und Tat) findet seinen zeichenhaften Ausdruck in der Übergabe des ‚Trostbechers‘, den der Tröstende dem Trauernden überreicht. Dabei kann auch Brot gegessen werden. Dieses Symbolhandeln gewinnt im Abendmahl Jesu mit den Jüngern seine wohl letztmögliche soteriologische und eschatologische Dimension. Der Becher des Heils ist ein Becher des Trostes: des Zuspruchs der gegenwärtigen und zukünftigen Gnade und des Erbarmens des menschgewordenen Gottes in der bestehenden geschichtlichen und persönlichen Situation mit dem Anspruch, die Verkündigung des ‚Todes des Herrn‘ und seiner Auferstehung, ‚bis er wiederkommt‘, in die Gegenwart als ein Handeln einzubringen, das sich an der Geschwisterlichkeit des verkündigten Jesus Christus orientiert.“

Das Gegenstück zum Becher des Trosts ist der Kelch des Leids, im bangen Vorausblick auf welchen Jesus Christus sich vom Vater vergebens wünschte, er möge an ihm vorübergehen. Man ahnt: Trost-Becher und Passions-Kelch sehen sich im christlichen Symbolraum zum Verwechseln ähnlich. Wo der Becher des Trosts gereicht wird, muss immer auch der Kelch des Mitleidens geleert werden. Trost und Leid sind die zwei Seiten derselben religiösen Medaille, Passion, Tröstung und christlicher Glaube bilden die dreifache Schnur, von der es in Prediger 4, Vers 12 heißt, sie reiße nicht leicht entzwei.

Ich danke Dr. theol. Matthias Wörther für seine fachkundige Zitatauswahl und für die Liste der folgenden Nachschlagewerke (für die Schlüsse, die ich aufgrund der Lektüre gezogen habe, trage ich natürlich die alleinige Verantwortung):

Praktisches Bibellexikon, 2. Auflage, Freiburg 1977

K. Rahner / H. Vorgrimler: Kleines theologisches Wörterbuch, 11. Auflage, Freiburg 1978

Christian Schütz (Hrsg.): Praktisches Lexikon der Spiritualität, Freiburg 1992

Prof. Dr. Peter Riede: Trost/Tröster/trösten, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), permanenter Link zum Artikel

Leonardo da Vinci: Das Abendmahl, 1494-97, 422 x 904 cm

Trösten kann heißen die Dinge beim Namen nennen

„Morgen werde ich dann wissen, wie es heißt, woher es kommt. Und wenn ich erst den Namen kenne, bringt dies Gift mich nicht mehr um.“

Hannes Wader: Unterwegs nach Süden, auf der LP: 7 Lieder

„Schon wenn das Bedrohliche einen Namen bekommt, büßt es Macht ein.“

Alexander Wendt: Du Miststück. Meine Depression und ich. Frankfurt am Main 2016 (S. Fischer Verlag)