Von Turgenjew über Psalm 90 zu Albert Camus

In einem kleinen St. Gallener Büchlein von 1987 mit dem Titel Quellen des Trostes (Textauswahl: Eugen Hettinger), fand ich neben anderen kurzen Texten bekannter Autoren diese Klarstellung von Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818-1883):

„Das Leben ist kein Scherz und auch kein Vergnügen; es ist nicht einmal ein Genuß … Das Leben ist schwere Mühe, Entsagung, dauernde Entsagung – das ist sein geheimer Sinn, die Lösung des Rätsels. Nicht die Erfüllung der Lieblingsgedanken und Träume, wie erhaben sie auch sein mögen, sondern die Erfüllung der Pflicht, – das ist’s, um was der Mensch sich mühen muß.“

Fällt das noch unter Trost? Diese Frage wird nur mit ja beantworten können, wer auch der Ernüchterung und Desillusionierung eine potentiell tröstliche Wirkung zuzusprechen bereit ist. Zwischen dem Trösten und dem Ermahnen bis hin zum Zurechtweisen oder Zur-Ordnung-Rufen scheint es jedenfalls eine fließende Grenze bzw. keine wirklich klare Unterscheidungsmöglichkeit zu geben. Dass das gar nicht anders sein kann, wird deutlich, wenn man „Trost“ definiert als „Ordnungsruf in seiner indirektesten, mildesten und einfühlsamsten Form“. Denn das ist doch immer auch ein Ziel des Tröstens: jemandem dabei zu helfen, in eine Mittel- oder Normallage, zur Möglichkeit einer geordneten Lebensführung zurück zu gelangen.

Ganz ähnlich wie Turgenjew tröstet desillusionierend die Bibel, wenn es in Psalm 90:10 heißt:

„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.“

Was an dieser Stelle hinzukommt, ist die von zeitgenössischen Ohren in der Regel als Zumutung empfundene Aufforderung, Mühe und Arbeit als etwas Köstliches wahrzunehmen. Womit wir gar nicht mehr weit entfernt sind von Albert Camus‘ grandiosem Vorschlag, in einer scheinbar sinnlosen Plackerei, das wahre Glück zu erkennen: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen,“ schreibt er in seinem Mythos des Sisyphos, und er folgert: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Doch es lohnt sich, die Schlusssequenz seines Essays in Gänze zu lesen:

„Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. […] Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verachtenswert findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Tage. In diesem besonderen Augenblick, in dem der Mensch sich seinem Leben zuwendet, betrachtet Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt, die Reihe unzusammenhängender Handlungen, die sein Schicksal werden, als von ihm geschaffen, vereint unter dem Blick seiner Erinnerung und bald besiegelt durch den Tod. Derart überzeugt vom ganz und gar menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat, ist er immer unterwegs. Noch rollt der Stein. […] Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Quelle 3: In der Ruhe liegt nicht nur die Kraft, sondern auch der Trost

„Sieh, wie alles so still ist drüben in der Unendlichkeit, wie leise ziehen die Welten, wie still schimmern die Sonnen! Der große Ewige ruht wie eine Quelle, mit seiner überfließenden unendlichen Liebe mitten unter ihnen und erquickt und beruhigt alles.“

Johann Paul Friedrich Richter alias Jean Paul

Still ist es in der Unendlichkeit! Leise ziehen die Welten! Still schimmern die Sonnen! Wie eine Quelle ruht der Ewige Beruhiger! Tröstung ist Beruhigung, in der Ruhe und Stille liegt Trost.

Ernst Joachim Förster: Jean Paul dichtet in seiner Gartenlaube in Bayreuth (ca. 1820)

An der Quelle des Trostes

„Fröhlichkeit, Freude, wenn sie nicht nur der schöne Lebensjubel vitaler Kraft ist und mit ihr dahinschwindet, wenn sie vielmehr die Gewissheit des ewigen Ursprungs ist, dann ist sie in erfüllter Gegenwärtigkeit, solange wir da sind, immer noch und immer wieder möglich.“

Karl Japsers am 3.7,1961. Denn:

„Am 3. Juli 1961 verabschiedete sich Karl Jaspers in der Aula der Basler Universität von seinem vielköpfigen Auditorium mit dem zitierten Zuspruch, der ein wenig an die Spendung eines – wenn auch abstrakten – Segens und an ein Bekenntnis gemahnt.“ Der ganze (lesenswerten) Artikel in der NZZ vom 14.7.2011 eröffnet sich einem hier.

„Wer einmal aus der Quelle der Philosophie getrunken hat, kann sie nie mehr entbehren.“ (Karl Jaspers) – Aber was heißt „Philosophie“ und was heißt „trinken“!?
Kleine Wanderung am letzten Sonntag. Was hier entspringt und gleich danach überbrückt wird, ist ein Bächlein namens Wolsel am Fuß der Kalmit in der Südpfalz bei St. Martin.

Brahms: Ein deutsches Requiem I.

Johannes Brahms:
Ein deutsches Requiem
Nach Worten der Heiligen Schrift, op. 45

I. [Ziemlich langsam und mit Ausdruck. F-Dur, C]

Selig sind, die da Leid tragen,
denn sie sollen getröstet werden.

(Matthäus 5, 4)

Die mit Tränen säen,
werden mit Freuden ernten.
Sie gehen hin und weinen
und tragen edlen Samen,
und kommen mit Freuden
und bringen ihre Garben.

(Psalm 125, 5.6.)

Trost für Hartgesottene

„Es ist ein universales Gesetz des Lebendigen: alles muss scheitern und es scheitert.“

Emil Cioran: Lehre vom Zerfall (1947)

Jean Louis Théodore Géricault: Das Floß der Medusa, 1818/19, Öl auf Leinwand, 491 x 716 cm

Géricaults Gemälde spielt an auf einen Vorfall am Rande des Untergangs der französischen Fregatte Méduse im Jahre 1816. Von den 149 Schiffbrüchigen auf dem Original-Floß konnten nur 10 gerettet werden.

Trösten kann heißen die Dinge beim Namen nennen

„Morgen werde ich dann wissen, wie es heißt, woher es kommt. Und wenn ich erst den Namen kenne, bringt dies Gift mich nicht mehr um.“

Hannes Wader: Unterwegs nach Süden, auf der LP: 7 Lieder

„Schon wenn das Bedrohliche einen Namen bekommt, büßt es Macht ein.“

Alexander Wendt: Du Miststück. Meine Depression und ich. Frankfurt am Main 2016 (S. Fischer Verlag)

Sleepless (and unconsolable) in Paris: Emil Cioran

Wen die Wahrheit, dass es keinen Trost gibt, nicht tröstet, für den gibt es keinen Trost, hätte der aus Rumänien stammende französische Philosoph Emil Cioran vielleicht gesagt. Untröstliche Gedanken, ins Extrem gesteigert, schlagen um ins Tröstliche. Die Youtube-Fassung einer halbstündigen SWR2-Sendung (sie ist keine Minute zu lang) am Ende dieses Beitrags ist ein Muss für jeden Trostforscher.

E. M. Cioran (1911-1995):

„Wer zum Geistigen strebt, wird das Scheitern höher stellen als jeden Erfolg. Denn das wesentliche Scheitern enthüllt uns selber, gestattet uns, uns zu sehen, wie Gott uns sieht, während der Erfolg uns von dem entfernt, was in uns und in allem am innerlichsten ist. Nur eines zählt: ein Verlierer zu sein.“

„Keine Idee kann Trost sein im Dunkel, kein System und keine Gewissheit hält den durchwachten Nächten stand. Es gibt Seelen, die krank sind durch Nächte, von denen sie niemals genesen werden.“

„Diese Wutanfälle, dieses Bedürfnis zu explodieren, jemandem in die Fresse zu schlagen – wie soll man dem Herr werden? Man braucht auf der Stelle einen kleinen Gang über den Friedhof oder besser noch, einen endgültigen.“

Die Zitate stammen aus einem Manuskript zu einer Sendung des Deutschlandfunks am 23.11.2016.

Karl O. spielt und singt O. Reutter

1.
Denk‘ stets, wenn etwas dir nicht gefällt:
„Es währt nichts ewig auf dieser Welt.“
Der kleinste Ärger, die größte Qual
Sind nicht von Dauer, sie enden mal.
Drum sei dein Trost, was immer es sei:
„In fünfzig Jahren ist alles vorbei.“

Otto Reutter (1870-1931) – die weiteren 15 oder 16 Strophen kann man hier nachlesen und dann vorsingen.

Von „comfort“ bis Southern Comfort

Während das Deutsche nur eine Art des Trosts (nämlich den, den wir „Trost“ nennen) zu kennen scheint, gibt es im englischen Sprachraum den Trost, den man meint, wenn man von „comfort“ spricht, und jenen, auf den man sich mit „consolation“ oder „solace“ bezieht. Oder ist das ein und derselbe Trost – und wenn ja: wie heißt er?

Aus dem Labyrinth sprachphilosophischer Erwägung kommen wir, wenn überhaupt, nur auf dem Wege der Promotion und Habilitation wieder heraus. Deshalb an dieser Stelle nur soviel: „comfort“ meint neben „Trost“ auch „Komfort“, „Annehmlichkeit“, „Bequemlichkeit“ („a comfortable chair“ ist kein Beichtstuhl, sondern im Gegenteil ein bequemer Stuhl). Man kann zwar einen „consolation prize“ gewinnen, nicht aber einen „comfort prize“, ansonsten wird, wenn ich es recht sehe, in umgangssprachlichen Wendungen der Gebrauch von „comfort“ demjenigen von „consolation“ oder „solace“ vorgezogen.

Wäre „comfort“ der unaufwendige, beinahe lakonisch-alltägliche Trost, würde es sich bei dem mit den lateinischen Vorfahren um die eloquent-viersilbige Variante für Sonn- und Feiertage handeln. Mit dieser These gut in Einklang zu bringen wäre die Tatsache der Verwendung von „comfort“ zur Bezeichnung eines Getränks, das in der Hausbar des Melancholikers nicht fehlen darf. „Es ist ein Brauch von Alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör“: Und wer nicht davor zurückschreckt, sich mit Likör zu trösten, landet vielleicht irgendwann auch einmal beim Trost des Südens, beim Southern Comfort – zunächst (wenn Wikipedia recht hat) ein 1874 von einem irischen Barkeeper in New Orleans erfundener Cocktail, doch wenig später schon ein Trost aus der Flasche, der nach Whisky, Pfirsich, Orange, Vanille, Zimt und dunkler Schokolade schmeckte und noch immer schmeckt. Dass das schmeckt, kann ich mir allerdings nicht vorstellen. Doch wie pflegte eine frühere Kommilitonin zu sagen: Hauptsache, es knallt in der Birne und Senft an der Decke (ja, das war damals in Berlin).

„Es ist ein Brauch von Alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör“ – das Zitat stammt bekanntermaßen aus Wilhelm Buschs Geschichte von der frommen(!) Helene. Kaum jemand kennt jedoch den Satz, der darauf folgt: „Doch wer zufrieden und vergnügt, sieht zu, daß er auch welchen kriegt.“ Merke: Manche Art von Trost ist nicht nur etwas für die Trostbedürftigen.

Aus Schopenhauers Bei- oder Nebenwerk

„Allerdings ist das Leben nicht eigentlich da, um genossen, sondern um überstanden, abgetan zu werden; dies bezeichnen auch die deutschen Ausdrücke ‚man muss suchen durchzukommen‘, ‚er wird schon durch die Welt kommen‘ und dergleichen mehr. Ja es ist ein Trost im Alter, dass man die Arbeit des Lebens hinter sich hat.“

Arthur Schopenhauer (1788-1860): Parerga und Paralipomena (2 Bände), 1851. Erster Band: Aphorismen zur Lebensweisheit. Kapitel 5: Paränesen und Maximen